Kalte Herzen
raussuchen.«
»Warum nicht?«
»Sie sind nicht da.«
»Aber Sie haben doch noch gar nicht nachgesehen.«
»Man hat mir gesagt, ich soll Ihnen keine weiteren Krankenakten aushändigen. Anweisung von Dr. Wettig. Er hat gesagt, wenn Sie auftauchen, sollen wir Sie sofort an sein Büro verweisen.«
Abby spürte, wie das Blut aus ihrem Kopf wich. Sie antwortete nichts.
»Er sagt, er hätte nie eine Aktenrecherche autorisiert.« Im Tonfall der Sachbearbeiterin schwang eine offene Anklage mit: Sie haben uns angelogen, Dr. DiMatteo.
Abby wußte keine Antwort. Sie hatte den Eindruck, als ob der Raum auf einmal ganz still geworden wäre. Als sie sich umblickte, bemerkte sie, daß die drei anderen anwesenden Ärzte sie beobachteten.
Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Archiv.
Ihr erster Impuls war, das Krankenhaus zu verlassen. Sie würde der unvermeidlichen Konfrontation mit Dr. Wettig aus dem Weg gehen und einfach wegfahren, immer weiter, bis tausend Meilen zwischen ihnen lagen. Wie lange würde sie brauchen, um Floridas Palmenstrände zu erreichen? Sie hatte so viele Dinge, die andere Menschen machten, noch nie getan. Jetzt konnte sie es tun, wenn sie einfach diesem verdammten Krankenhaus den Rücken kehrte und zugab: Ihr habt gewonnen.
Ihr habt alle gewonnen.
Doch das tat sie nicht. Sie stieg in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für den ersten Stock.
Auf der kurzen Fahrt in den Verwaltungstrakt wurden ihr einige Dinge klar. Erstens war sie zu stur oder zu dumm, um einfach wegzulaufen. Und zweitens war ein Strand nicht das, was sie wirklich wollte. Sie wollte ihren Traum zurückhaben.
Sie verließ den Fahrstuhl und ging den mit Teppich ausgelegten Flur hinunter. Das Büro des Leiters des Ausbildungsprogramms war gleich um die Ecke von Parrs Suite.
Als sie an Parrs Sekretärin vorbeikam, sah sie die Frau hochschrecken und zum Telefon greifen.
Abby kam um die Ecke und betrat Wettigs Vorzimmer. Vor dem Schreibtisch der Sekretärin standen zwei Männer, die Abby noch nie zuvor gesehen hatte. Die Sekretärin starrte Abby genauso fassungslos an wie Parrs Sekretärin und platzte heraus:
»Oh! Dr. DiMatteo –«
»Ich muß Dr. Wettig sprechen«, verlangte Abby.
Die beiden Männer drehten sich zu ihr um. Im nächsten Augenblick wurde Abby von einem Blitz überrascht. Sie zuckte zusammen, als das Licht erneut aufblitzte. Es war der Blitz einer Kamera.
»Was machen Sie da?« fragte sie überrascht.
»Doktor, möchten Sie einen Kommentar zum Tod von Mary Allen abgeben?« fragte einer der Männer.
»Was?«
»Sie war doch Ihre Patientin, oder nicht?«
»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Gary Starke vom
Boston Herald.
Stimmt es, daß Sie eine Befürworterin der Sterbehilfe sind? Wir wissen, daß Sie entsprechende Äußerungen gemacht haben.«
»Ich habe nichts dergleichen ge–«
»Warum wurden Sie Ihrer Dienstpflichten enthoben?«
Abby wich einen Schritt zurück. »Lassen Sie mich in Ruhe.
Ich rede nicht mit Ihnen.«
»Dr. DiMatteo –«
Abby drehte sich um und wollte aus dem Zimmer fliehen.
Dabei wäre sie fast mit Jeremiah Parr zusammengestoßen, der eben hereinkam.
»Ich will, daß diese Reporter auf der Stelle mein Krankenhaus verlassen«, fauchte er, bevor er zu Abby sagte: »Sie kommen mit mir, Doktor.«
Abby folgte Parr im Sturmschritt den Flur hinunter zu seinem Büro. Er schloß die Tür, drehte sich um und schaute sie an.
»Vor einer Stunde hat der
Herald
angerufen«, sagte er. »Als nächstes der
Globe,
gefolgt von einem halben Dutzend weiterer Zeitungen. Seitdem steht das Telefon nicht mehr still.«
»Wissen Sie es von Brenda Hainey?«
»Ich glaube nicht, daß sie es war. Sie schienen auch über das Morphium informiert zu sein. Und über die Ampulle in Ihrem Spind. Sachen, die Miss Hainey nicht wissen konnte.«
Abby schüttelte den Kopf. »Wie haben sie das alles erfahren?«
»Irgend jemand hat es durchsickern lassen.« Parr ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. »Das wird uns das Genick brechen. Eine polizeiliche Ermittlung, Detectives, die über die Flure schwärmen.«
Die Polizei. Natürlich. Natürlich mußte es auch bis zu ihnen vorgedrungen sein.
Abby blickte Parr an. Ihre Kehle war zu ausgedörrt, um auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Sie überlegte, ob Parr das Leck war, verwarf den Gedanken jedoch als unwahrscheinlich. Dieser Skandal konnte auch ihm schaden. Es klopfte, und Dr. Wettig kam herein. »Was soll ich diesen Reportern erzählen, verdammt noch
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