Kalte Herzen
Wissen über eine Entnahme an dem betreffenden Abend.«
Nina hatte sich wieder in Schweigen gehüllt. Sie schien in ihrem Wollmantel zu versinken.
»Sie waren nicht die erste«, sagte Abby.
Das weiße Gesicht starrte sie benommen an. »Es gab noch andere?«
»Mindestens vier. Ich habe die Akten der letzten zwei Jahre eingesehen. Es ist immer das gleiche Muster: Bayside wird telefonisch aus Burlington unterrichtet, daß es einen Spender gibt. Irgendwann kurz nach Mitternacht wird das Herz in unserem OP angeliefert. Die Transplantation wird durchgeführt, alles Routine. Aber irgend etwas stimmt nicht. Wir sprechen von vier Herzen, vier Toten. Ich habe mit einer Freundin die Todesanzeigen für die entsprechenden Daten in Burlington überprüft. Keiner der Spender taucht auf.«
»Woher kommen die Herzen dann?«
Abby zögerte, sah Ninas ungläubigen Blick und sagte: »Ich weiß es nicht.«
Die Limousine hatte eine Schleife nach Norden gedreht und folgte jetzt wieder dem Charles River. Sie fuhren zurück Richtung Beacon Hill.
»Ich habe keine Beweise«, fuhr Abby fort. »Und ich dringe nicht zu der New England Organ Bank oder sonst irgendwem durch. Jeder weiß, daß eine Ermittlung gegen mich anhängig ist.
Alle halten mich für verrückt. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Als wir uns in jener Nacht in der Intensivchirurgie kennengelernt haben, dachte ich: ›Diese Frau hättest du gern zur Freundin.‹« Sie machte eine Pause. »Ich brauche Ihre Hilfe, Mrs. Voss.«
Nina antwortete lange Zeit gar nichts. Sie sah Abby nicht an, sondern starrte stur geradeaus. Ihr Gesicht war so weiß wie ein ausgebleichter Knochen. Schließlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein. Sie atmete tief aus und sagte: »Ich werde Sie jetzt absetzen. Ist diese Ecke recht?«
»Mrs. Voss, Ihr Mann hat dieses Herz gekauft. Wenn er es getan hat, können es auch andere tun. Wir wissen nicht, wer die Spender sind! Wir wissen nicht, wie sie sie bekommen –«
»Hier«, befahl Nina dem Fahrer.
Die Limousine hielt am Straßenrand.
»Bitte steigen Sie aus«, erklärte Nina.
Abby rührte sich nicht. Sie saß einfach da, ohne etwas zu sagen.
Der Regen trommelte monoton auf das Wagendach.
»Bitte«, flüsterte Nina.
»Ich dachte, ich könnte Ihnen vertrauen. Ich dachte …« Abby schüttelte langsam den Kopf. »Auf Wiedersehen, Mrs. Voss.«
Eine Hand berührte ihren Arm. Abby drehte sich um und blickte in die gehetzten Augen der Frau.
»Ich liebe meinen Mann«, sagte Nina. »Und er liebt mich.«
»Wird es dadurch legal?«
Nina antwortete nicht.
Abby stieg aus und schloß die Tür. Die Limousine fuhr an. Als sie sie in die Dämmerung gleiten sah, war sie davon überzeugt, daß sie diese Frau nie wieder sehen würde.
Mit hängenden Schultern wandte sie sich ab und stapfte durch den Regen.
»Jetzt nach Hause, Mrs. Voss?« Die Stimme des Chauffeurs, die flach und blechern aus dem Lautsprecher drang, riß Nina aus ihren Gedanken.
»Ja«, sagte sie. »Fahren Sie mich nach Hause.«
Sie hüllte sich fester in ihren Kokon aus schwarzer Wolle und starrte auf die Regentropfen an den Scheiben. Sie überlegte, was sie Victor sagen wollte, und was sie ihm nicht sagen wollte, nicht sagen konnte. Das ist aus unserer Liebe geworden, dachte sie. Geheimnisse über Geheimnisse. Und er bewahrt das schrecklichste Geheimnis von allen.
Nina ließ den Kopf sinken und fing an zu weinen, um Victor und um das, was aus ihrer Ehe geworden war. Sie weinte auch um sich selbst, weil sie wußte, was zu tun war, und sie hatte Angst. Die Regentropfen strömten wie Tränen über die Scheiben, als die Limousine sie nach Hause brachte, zu Victor.
Neunzehn
S hu-Shu brauchte ein Bad. Das hatten die älteren Jungen schon seit Tagen gesagt und sogar damit gedroht, Shu-Shu ins Meer zu werfen, wenn Alexei den Hund nicht gründlich reinigte. »Er stinkt«, behaupteten sie, »kein Wunder bei deinem ganzen Schnodder in seinem Fell.« Alexei fand nicht, daß Shu-Shu stank. Er mochte den Geruch. Shu-Shu war noch nie gewaschen worden, und jeder Duft in seinem Fell war eine eigene Erinnerung. Der Geruch von Bratensoße, die er auf den Schwanz gekleckert hatte, erinnerte ihn an das gestrige Abendessen, als Nadja ihm eine doppelte Portion von allem gegeben und ihn sogar angelächelt hatte. Der Zigarettengeruch erinnerte ihn an Onkel Mischa, schroff, aber warm. Der Geruch nach saurer Rote Beete stammte vom Ostermorgen, als sie gelacht und gekochte Eier gegessen hatten und
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