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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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er die Suppe über Shu-Shus Kopf vergossen hatte. Und wenn er die Augen schloß und tief einatmete, konnte er manchmal noch einen anderen Geruch erschnuppern, blasser, aber nach all den Jahren noch immer erkennbar. Etwas, das er weder als süß noch als sauer einordnen konnte. Er erkannte es vielmehr an den Gefühlen, die es in ihm auslöste, an dem Duft, den er an sein Herz dringen ließ, dem Duft seiner frühesten Kindheit, dem Duft, gestreichelt, in den Schlaf gesungen und geliebt zu werden.
    Er umarmte Shu-Shu und vergrub sich tiefer unter seiner Decke. Ich werde nie zulassen, daß sie dich baden, dachte er.
    Es waren ohnehin nicht allzu viele von denen übrig, die ihn hätten quälen können. Vor fünf Tagen war ein zweites Boot neben ihrem aus dem Nebel getaucht. Alle Jungen hatten sich an Deck versammelt, Nadja und Gregor waren hin und her gelaufen und hatten Namen gerufen. »Nikolai Alexeienko! Pavel Prebraschenski!« Bei jedem Namen gab es Jubelrufe und gereckte Fäuste. Ja, ich bin ausgewählt worden! Die nicht Erwählten und Übriggebliebenen standen zusammengesunken an der Reling und sahen zu, wie ein motorisiertes Boot die ausgewählten Jungen zu dem anderen Schiff brachte.
    »Wohin fahren sie?« fragte Alexei.
    »Zu Familien im Westen«, antwortete Nadja. »Und jetzt weg von der Reling. Es wird kalt an Deck.«
    Die Jungen rührten sich nicht von der Stelle. Nach einer Weile schien es Nadja egal zu sein, ob sie an Deck blieben oder nicht, und sie ging nach unten.
    »Die Familien im Westen müssen dumm sein«, meinte Jakov.
    Alexei wandte den Blick vom Meer ab und sah ihn an. Jakov starrte finster auf die See, das Kinn vorgereckt wie jemand, der einen Streit anfangen will. »Für dich sind doch alle dumm«, sagte Alexei.
    »Das sind sie auch. Alle auf diesem Schiff.«
    »Das heißt, du auch.«
    Jakov hatte nicht geantwortet, sondern mit seiner gesunden Hand nur grimmig die Reling gepackt. Er hielt den Blick auf das andere Schiff gerichtet, das langsam im Nebel verschwand.
    Dann war er weggegangen.
    An den folgenden Tagen hatte Alexei ihn kaum gesehen.
    Heute abend war er wie üblich nach dem Essen verschwunden.
    Wahrscheinlich ist er in seinem blöden Abenteuerland, dachte Alexei. Versteckte sich in seiner Kiste voller Mäusedreck.
    Alexei zog die Decke über den Kopf. Und so schlief er in seiner Koje ein, den schmuddeligen Shu-Shu an sein Gesicht gekuschelt.
    Eine Hand schüttelte ihn, und eine Stimme rief leise in der Nacht: »Alexei! Alexei!«
    »Mammi«, murmelte er.
    »Alexei, Zeit aufzuwachen. Ich habe eine Überraschung für dich.«
    Langsam tauchte er aus den Schichten des Schlafes auf. Die Hand schüttelte ihn noch immer. Er erkannte Nadjas Geruch.
    »Es wird Zeit aufzubrechen«, flüsterte sie.
    »Wohin denn?«
    »Du mußt dich fertigmachen, um deine neue Mutter zu treffen.«
    »Ist sie da?«
    »Ich bringe dich zu ihr, Alexei. Du bist unter all den Jungen ausgewählt worden. Du kannst stolz sein. Und jetzt komm und sei leise.«
    Alexei richtete sich auf. Er war noch nicht ganz wach und unsicher, ob er nicht träumte. Nadja streckte die Hand aus und half ihm aus der Koje.
    »Shu-Shu«, sagte er.
    Nadja drückte ihm den Hund in den Arm. »Natürlich darfst du Shu-Shu mitnehmen.« Sie ergriff seine Hand. Sie hatte noch nie seine Hand gehalten. Das plötzliche Glücksgefühl machte ihn mit einem Schlag hellwach. Sie gingen Hand in Hand, um seine Mutter zu treffen. Es war dunkel, und er hatte Angst im Dunkeln, aber Nadja würde dafür sorgen, daß ihm nichts geschah.
    Er erinnerte sich, irgendwie erinnerte er sich daran: So fühlt es sich an, die Hand seiner Mutter zu halten.
    Sie verließen die Kabine und gingen den schwach beleuchteten Flur hinunter. Er stolperte in einem Freudentaumel, ohne darauf zu achten, wohin sie gingen, weil Nadja sich um alles kümmern würde. Sie bogen in einen anderen Flur, den er nicht erkannte.
    Nadja stieß eine Tür auf.
    Ins Abenteuerland!
    Der stählerne Steg erstreckte sich vor ihnen. An seinem Ende wartete die blaue Tür.
    Alexei blieb stehen.
    »Was ist denn?« fragte Nadja.
    »Ich will nicht da reingehen.«
    »Aber du mußt da reingehen.«
    »Da drinnen wohnen Leute.«
    »Jetzt stell dich nicht an, Alexei.« Nadja packte seine Hand fester. »Du mußt da reingehen.«
    »Warum?«
    Offenbar hatte sie plötzlich begriffen, daß eine andere Taktik angezeigt war. Sie hockte sich vor ihn, sah ihm direkt in die Augen und faßte ihn fest bei den Schultern. »Willst du

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