Kalte Herzen
alles verderben? Willst du sie wütend machen? Sie erwartet einen gehorsamen kleinen Jungen, und jetzt bist du so ungezogen.«
Seine Lippen bebten. Er strengte sich an, nicht zu weinen, weil er wußte, wie sehr die Erwachsenen es haßten, wenn Kinder weinten. Aber die Tränen flossen trotzdem, und jetzt hatte er wahrscheinlich schon alles verdorben, genau wie Nadja gesagt hatte. Er verdarb immer alles.
»Noch ist nichts endgültig«, erklärte Nadja. »Sie kann sich immer noch für einen anderen Jungen entscheiden. Willst du das?«
»Nein«, schluchzte Alexei.
»Warum benimmst du dich dann nicht?«
»Ich habe Angst vor den Wachtel-Leuten.«
»Was? Sei nicht albern. Es würde mich nicht wundern, wenn dich am Ende keiner haben will.« Sie richtete sich auf und packte erneut seine Hand. »Jetzt komm.«
Alexei blickte zu der blauen Tür. »Trag mich«, flüsterte er.
»Du bist zu groß. Ich werde mir den Rücken weh tun.«
»Bitte trag mich.«
»Du mußt laufen, Alexei. Und jetzt beeil dich oder wir kommen zu spät.« Sie legte ihren Arm um ihn.
Er ging los, nur weil sie neben ihm war und ihn so eng umarmte. So wie er Shu-Shu umarmte. Solange sie sich alle drei im Arm hielten, würde nichts Schlimmes passieren. Nadja klopfte an die blaue Tür. Die Tür ging auf.
Jakov hörte sie auf dem Steg über sich, Alexeis Gejammer, Nadjas ungeduldiges Drängen. Er kroch an den Rand seiner Kiste und spähte vorsichtig zu ihnen hoch. Sie gingen zu der blauen Tür und waren einen Moment später dahinter verschwunden. Warum darf Alexei da rein und ich nicht? dachte er. Jakov krabbelte aus seiner Kiste und stieg die Treppe zur blauen Tür hinauf. Er versuchte, sie zu öffnen, aber sie war wie immer verschlossen. Geschlagen zog er sich wieder in seine Kiste zurück, die sich mittlerweile zu einem recht bequemen Versteck gemausert hatte. In der letzten Woche hatte er eine Decke, eine Taschenlampe und eine Reihe von Zeitschriften mit nackten Frauen ergattert. Außerdem hatte er ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten von Koubichev mitgehen lassen.
Manchmal rauchte Jakov eine davon, aber weil es nur wenige Zigaretten waren, ging er sehr sparsam damit um. Einmal hatte er aus Versehen die Sägespäne in Brand gesetzt. Das war aufregend gewesen. Aber meistens gefiel ihm einfach der Gedanke, die Zigaretten zu besitzen. Er genoß es, die Schachtel in der Hand zu halten und im Licht der Taschenlampe wieder und wieder den Markennamen zu lesen.
Das hatte er auch getan, als er Alexei und Nadja auf dem Steg gehört hatte. Jetzt wartete er darauf, daß sie durch die blaue Tür zurückkamen. Es dauerte sehr lange. Was machten sie bloß da drinnen?
Jakov schleuderte die Zigaretten auf den Boden. Das war alles nicht fair!
Er sah sich in seinen Zeitschriften ein paar Bilder an und übte das Feuerzeug zu bedienen. Schließlich beschloß er zu schlafen.
Er rollte sich in seine Decke und döste ein.
Irgendwann später erwachte er von einem Dröhnen. Zuerst dachte er, daß mit dem Schiffsmotor irgendwas nicht stimmte, bis er bemerkte, daß das Geräusch lauter und lauter wurde und nicht aus der Hölle, sondern vom Oberdeck kam.
Es war der Hubschrauber.
Gregor verschloß die Plastiktüte und legte sie in die Kühlbox. Er gab die Box Nadja und forderte sie auf: »Nun nimm schon.«
Zuerst schien sie ihn gar nicht zu hören. Dann sah sie ihn mit aschfahlem Gesicht an, und er dachte: Die dumme Gans hat nicht die Nerven. »Es braucht Eis. Los, mach schon.« Er schob die Kühlbox zu ihr rüber.
Sie schien entsetzt zurückzuweichen. Dann atmete sie tief ein, nahm die Kühlbox und trug sie zu dem Tisch auf der anderen Seite des Raumes. Er bemerkte, daß sie auf wackeligen Beinen ging. Das erste Mal war immer ein Schock. Ihm selbst war beim ersten Mal zwischendurch auch ziemlich flau geworden. Nadja würde darüber hinwegkommen.
Er drehte sich zum OP-Tisch. Der Anästhesist hatte den Leichensack bereits zugezogen und sammelte jetzt die blutigen Tücher ein. Der Chirurg machte keinerlei Anstalten, ihm dabei zu helfen. Statt dessen stand er wie atemlos an den Tisch gelehnt. Gregor betrachtete ihn voller Abscheu. Ein Arzt, der es zuließ, daß er so grotesk fett wurde, war besonders widerwärtig.
Der Chirurg sah heute abend nicht gut aus. Die ganze Operation hindurch hatte er gekeucht, und seine Hände hatten noch mehr gezittert als üblich.
»Ich habe Kopfschmerzen«, stöhnte der Chirurg.
»Du hast zu viel getrunken. Ist wahrscheinlich nur
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