Kalte Herzen
oder?« fragte das Mädchen leicht mißbilligend, als sie die neue Vase musterte.
»Nein.« Nina betrachtete den Strauß aus Wildblumen. Mit dem Blick einer passionierten Gärtnerin hatte sie schon Feuersalbei und rosafarbene Flammenblumen, violetten Sonnenhut und gelbe Astern entdeckt. Und Gänseblümchen, jede Menge Gänseblümchen, diese einfachen, gewöhnlichen Blumen. Wo fand man so spät im Jahr noch Gänseblümchen?
Sie strich mit der Hand über die Blüten und atmete den Duft des Spätsommers ein, das von der Erinnerung konservierte Aroma des Gartens, den selbst zu pflegen sie zu krank gewesen war.
Jetzt war der Sommer vorbei, und das Haus in Newport war für den Winter geschlossen. Wie sie diese Jahreszeit haßte, wenn der Garten verödete und sie nach Boston zurückkehren mußte, in das Haus mit den mit Blattgold verzierten Decken, den geschnitzten Türrahmen und den Bädern aus Carrara-Marmor.
Sie fand das dunkle Holz überall bedrückend. Ihr Sommerhaus war von Licht, warmen Brisen und dem Geruch des Meeres erfüllt. Dieses Haus hier dagegen ließ sie an den Winter denken.
Sie zupfte ein Gänseblümchen aus der Vase und atmete seinen durchdringenden Duft ein.
»Wollen Sie nicht lieber die Lilien bei sich stehen haben?«
fragte das Mädchen. »Sie duften so wunderbar.«
»Davon kriege ich Kopfschmerzen. Von wem sind diese Blumen?«
Das Mädchen riß den kleinen, an die Vase geklebten Umschlag ab und öffnete ihn. »›Für Mrs. Voss. Rasche Genesung. Joy.‹ Sonst nichts.«
Nina runzelte die Stirn. »Ich kenne niemanden, der Joy heißt.«
»Vielleicht fällt es Ihnen wieder ein. Wollen Sie sich jetzt wieder hinlegen? Mr. Voss sagt, Sie müssen sich ausruhen.«
»Ich habe genug davon, immer im Bett zu liegen.«
»Aber Mr. Voss sagt –«
»Ich lege mich später hin. Ich möchte gern noch eine Weile hier sitzen. Allein.«
Das Mädchen zögerte und verließ dann nickend, aber widerwillig das Zimmer.
Endlich, dachte Nina. Endlich bin ich allein.
Seit sie das Krankenhaus in der letzten Wochen verlassen hatte, war sie ständig von Menschen umgeben gewesen. Von privaten Schwestern, Ärzten und Hausmädchen. Vor allem aber von Victor. Er hatte ihr alle Genesungswünsche vorgelesen und ihre Telefonate gefiltert. Er hatte sie beschützt und isoliert, sie wie eine Gefangene im eigenen Haus gehalten.
Und alles nur, weil er sie liebte. Vielleicht liebte er sie zu sehr.
Müde lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und ertappte sich dabei, das Porträt an der gegenüberliegenden Wand zu betrachten.
Es war ein Bild von ihr, gemalt kurz nach ihrer Hochzeit.
Victor hatte es in Auftrag gegeben und sogar das Kleid ausgewählt, das sie getragen hatte. Es war ein langes, mauvefarbenes Seidenkleid mit einem zarten Rosenmuster. Sie stand unter einer weinberankten Laube und hielt in einer Hand eine einzelne weiße Rose, während die andere unbeholfen herabhing. Ihr Lächeln war schüchtern und unsicher, als würde sie denken: Ich stehe hier nur als Ersatz für eine andere.
Als sie jetzt das Porträt von sich selbst in jüngeren Jahren betrachtete, erkannte sie, wie wenig sie sich seit jenem Tag verändert hatte, als sie als Jungvermählte im Garten Modell gestanden hatte. Natürlich hatten die Jahre ihre Spuren hinterlassen.
Sie hatte ihre gute, robuste Gesundheit eingebüßt, aber in vielerlei Hinsicht war sie noch immer wie früher. Noch immer scheu und unbeholfen. Noch immer die Frau, die Victor Voss als seinen Besitz beansprucht hatte.
Sie hörte seine Schritte und blickte auf, als er das Schlafzimmer betrat.
»Louisa hat mir erzählt, daß du immer noch auf bist«, sagte er.
»Du solltest dich ausruhen.«
»Mir geht es gut, Victor.«
»Du siehst noch nicht kräftig genug aus.«
»Die Operation liegt jetzt dreieinhalb Wochen zurück.
Dr. Archer sagte, seine anderen Patienten würden inzwischen längst wieder in der Tretmühle stecken.«
»Du bist aber nicht wie die anderen Patienten. Ich denke, du solltest dich hinlegen.«
Ihre Blicke trafen sich. Mit fester Stimme erklärte sie: »Ich werde hier sitzen bleiben, Victor. Ich möchte aus dem Fenster schauen.«
»Nina, ich will nur dein Bestes.«
Doch sie hatte sich bereits abgewandt und starrte in den Park auf die Bäume, deren herbstliche Farbenpracht langsam zu einem winterlichen Braun verblaßte. »Ich würde gern einen Ausflug machen.«
»Dafür ist es noch zu früh.«
»… in den Park, An den Fluß. Irgendwohin, nur raus aus diesem
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