Kalte Herzen
Haus.«
»Du hörst mir nicht zu, Nina.«
Sie seufzte und sagte dann leise: »Du bist derjenige, der nicht zuhört.«
Es entstand ein Schweigen. »Was ist denn das?« fragte er und wies auf die Vase neben ihrem Stuhl.
»Sie sind gerade angekommen.«
»Wer hat sie geschickt?«
Sie zuckte die Schultern. »Irgend jemand namens Joy.«
»Solche Blumen kann man überall am Wegesrand pflücken.«
»Deswegen heißen sie auch Wildblumen.«
Er nahm die Vase und trug sie in eine andere Ecke des Zimmers.
Dann holte er die weißen Lilien zurück und stellte sie neben sie. »Das ist wenigstens kein Unkraut«, bemerkte er und verließ das Zimmer.
Sie blickte die Lilien an. Sie waren wirklich wunderschön.
Exotisch und perfekt, aber ihr süßlicher Duft verursachte ihr Übelkeit.
Nina blinzelte und spürte, wie ein unerwarteter Tränenschleier ihren Blick trübte, als sie erneut den winzigen Umschlag betrachtete, der mit dem Wildblumen gekommen war.
Joy. Wer war Joy?
Sie öffnete den Umschlag und entnahm die innenliegende Karte. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie auch auf der Rückseite beschriftet war. Sie drehte sie um.
Manche Ärzte sagen immer die Wahrheit,
stand da.
Und darunter eine Telefonnummer.
Als Nina Voss um fünf Uhr nachmittags anrief, war Abby allein zu Hause.
»Ist dort Dr. DiMatteo?« fragte eine leise Stimme. »Die immer die Wahrheit sagt?«
»Mrs. Voss? Sie haben meine Blumen bekommen?«
»Ja, vielen Dank. Und Ihre ziemlich seltsame Karte.«
»Ich habe alle anderen Möglichkeiten, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, vergeblich ausprobiert. Briefe, Anrufe.«
»Ich bin seit über einer Woche zu Hause.«
»Aber Sie waren nicht erreichbar.«
Es entstand eine Pause, dann hörte Abby ein leises »Ich verstehe«.
Sie hat keine Ahnung, wie isoliert sie ist, dachte Abby. Keine Ahnung, wie ihr Mann sie von der Außenwelt abkapselt.
»Sind Sie allein?« fragte Abby.
»Ich bin allein in meinem Zimmer. Worum geht es denn eigentlich?«
»Ich muß Sie treffen, Mrs. Voss, und es muß ohne das Wissen Ihres Mannes geschehen. Können Sie das einrichten?«
»Sagen Sie mir erst, warum?«
»Es ist nicht leicht, das am Telefon zu erklären.«
»Ich werde mich nicht mit Ihnen treffen, wenn Sie mir nicht sagen, warum.«
Abby zögerte. »Es geht um Ihr Herz. Das Herz, das Sie in Bayside bekommen haben.«
»Ja?«
»Niemand scheint zu wissen, wessen Herz es war, oder woher es stammt.« Sie machte eine Pause und fragte dann leise:
»Wissen Sie es, Mrs. Voss?«
Das nachfolgende Schweigen wurde nur durch Ninas schnellen, unregelmäßigen Atem unterbrochen.
»Mrs. Voss?«
»Ich muß auflegen.«
»Warten Sie. Wann kann ich Sie treffen?«
»Morgen.«
»Wie? Wo?«
Es entstand eine weitere Pause. Kurz bevor die Leitung tot war, sagte Nina: »Ich werde einen Weg finden.«
Der Regen trommelte gnadenlos auf die gestreifte Markise über Abbys Kopf. Seit vierzig Minuten stand sie vor Celluci’s Lebensmittelladen und zitterte vor Kälte unter der schmalen Überdachung. Eine Reihe von Lieferwagen hatte zum Entladen vor dem Geschäft gehalten. Jetzt karrten die Männer Transportwagen und Kisten hinein.
Um zwanzig nach vier wurde der Regen heftiger, und Windböen trieben ihn unter die Markise, so daß Abbys Schuhe naß wurden. Ihre Füße waren eiskalt. Inzwischen wartete sie schon eine Stunde. Nina Voss kam vermutlich nicht mehr.
Abby zuckte zusammen, als ein Lastwagen von Progresso Foods plötzlich anfuhr und eine Abgaswolke zurückließ. Als sie erneut aufblickte, bemerkte sie, daß an der gegenüberliegenden Straßenseite eine schwarze Limousine gehalten hatte. Das Fahrerfenster wurde einen Spalt heruntergekurbelt, und ein Mann rief: »Dr. DiMatteo? Steigen Sie ein.«
Sie zögerte. Die Scheiben waren so dunkel getönt, daß sie nicht ins Wageninnere blicken konnte. Sie erkannte lediglich die Umrisse eines einzelnen Fahrgasts auf der Rückbank.
»Wir haben nicht viel Zeit«, drängte der Fahrer. Den Kopf zum Schutz gegen den prasselnden Regen gesenkt, überquerte Abby die Straße und öffnete die Wagentür. Sie blinzelte die Tropfen aus ihren Augen und richtete den Blick auf den Passagier auf dem Rücksitz. Dessen Anblick entsetzte sie.
Nina Voss wirkte blaß und eingefallen. Ihre Haut war von einem puderigen Weiß. »Bitte steigen Sie ein, Doktor«, forderte sie Abby auf.
Abby nahm neben ihr auf der Rückbank Platz und schloß die Tür. Der Wagen fuhr an und fädelte sich lautlos in den fließenden Verkehr
Weitere Kostenlose Bücher