Kalte Herzen
ein.
Nina war so dick in ihren schwarzen Mantel und einen Schal gewickelt, daß ihr Gesicht körperlos im Schatten des Wagens zu schweben schien. Das war nicht das Bild einer rekonvaleszenten Transplantationspatientin. Abby erinnerte sich an Josh O’Days gerötetes Gesicht, seine Lebhaftigkeit und sein Lachen.
Nina Voss sah aus wie ein lebende Leiche.
»Es tut mir leid, daß wir so spät kommen«, entschuldigte sich Nina. »Wir hatten Probleme, das Haus zu verlassen.«
»Weiß Ihr Mann, daß Sie sich mit mir treffen?«
»Nein.« Nina lehnte sich zurück, ihr Gesicht schien in der schwarzen Wolle des Schals fast zu versinken. »Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, daß man Victor bestimmte Dinge besser nicht erzählt. Das wahre Geheimnis einer glücklichen Ehe ist Schweigen, Dr. DiMatteo.«
»Das klingt für mich nicht gerade wie eine glückliche Ehe.«
»Doch, das ist es. Seltsamerweise.« Nina lächelte und sah aus dem Fenster. Das wässrige Licht verzerrte die Schatten in ihrem Gesicht. »Männer müssen vor so vielen Dingen beschützt werden. Vor allem vor sich selbst. Deswegen brauchen sie uns, verstehen Sie. Das Komische ist, daß sie das nie zugeben würden. Sie glauben, sie kümmern sich um uns. Und wir wissen die ganze Zeit die Wahrheit.« Sie wandte sich Abby zu, und ihr Lächeln verblaßte. »Jetzt muß ich es wissen. Was hat Victor diesmal getan?«
»Ich hatte gehofft, daß Sie mir das sagen können.«
»Sie deuteten an, es hätte mit meinem Herzen zu tun.« Nina legte eine Hand auf ihre Brust. Im Dämmerlicht des Wagens wirkte die Geste beinahe religiös. »Was wissen Sie darüber?«
»Ich weiß, daß Ihr Herz nicht durch die normalen Kanäle kam.
Fast alle transplantierten Organe werden über ein zentrales Registrierungssystem an die Empfänger vermittelt. Ihres nicht.
Nach den Unterlagen der Organbank haben Sie nie ein Herz bekommen.«
Nina ballte die weiße Hand auf ihrer Brust zu einer grimmigen Faust. »Und woher kam dann das hier?«
»Ich weiß es nicht. Wissen Sie es?«
Das leichenblasse Gesicht starrte sie schweigend an.
»Ich glaube, Ihr Mann weiß es«, sagte Abby.
»Wie sollte er?«
»Er hat es gekauft.«
»Man kann nicht einfach ein Herz kaufen.«
»Mit genug Geld kann man alles kaufen.«
Nina erwiderte nichts, doch ihr Schweigen war ein Eingeständnis jener fundamentalen Wahrheit: Mit Geld kann man alles kaufen.
Die Limousine bog in die Embankment Road und fuhr in westlicher Richtung am Charles River entlang. Dessen Wasseroberfläche war grau und von Regentropfen gesprenkelt.
»Wie haben Sie das herausbekommen?« fragte Nina.
»Ich hatte in letzter Zeit unerwartet viel Freizeit. Es ist erstaunlich, was man alles geschafft kriegt, wenn man plötzlich arbeitslos ist. In den letzten paar Tagen habe ich vieles erfahren.
Nicht nur über Ihre Transplantation, sondern auch über andere.
Und je mehr ich herausfinde, desto mehr Angst bekomme ich, Mrs. Voss.«
»Warum kommen Sie damit zu mir? Warum wenden Sie sich nicht an die Behörden?«
»Haben Sie es noch nicht gehört? Ich habe einen neuen Spitznamen:
Dr. Schierling.
Man sagt, ich würde meine Patienten aus Barmherzigkeit umbringen. Natürlich ist nichts von all dem wahr, aber die Menschen sind immer bereit, das Schlimmste zu glauben.« Abby blickte deprimiert auf den Fluß.
»Ich habe meinen Job verloren. Ich bin unglaubwürdig. Und ich habe keine Beweise.«
»Was haben Sie dann?«
Abby sah sie an. »Ich weiß die Wahrheit.«
Die Limousine fuhr durch eine Pfütze, und das Wasser spritzte von unten gegen den Wagen. Sie hatten sich vom Fluß entfernt, vor ihnen wand sich die Straße zu den Back Bay Fens.
»Am Abend Ihrer Transplantation wurde dem Bayside um zehn Uhr telefonisch mitgeteilt, daß man einen Spender in Burlington, Vermont, hätte«, erklärte Abby. »Drei Stunden später wurde das Herz in unserem OP angeliefert. Die Entnahme wurde angeblich im Wilcox Memorial Hospital vorgenommen, von einem Chirurgen namens Timothy Nicholls. Sie erhielten Ihre Transplantation, und alles verlief wie gewohnt. In vielerlei Hinsicht war es wie jede andere Transplantation am Bayside.«
Sie machte eine Pause. »Mit einem großen Unterschied: Kein Mensch weiß, woher ihr Spenderherz gekommen ist.«
»Sie sagten, es wäre aus Burlington gekommen.«
»Ich sagte, angeblich kam es von dort. Aber Dr. Nicholls ist verschwunden. Vielleicht versteckt er sich. Vielleicht ist er auch tot. Und das Wilcox Memorial bestreitet jedes
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