Kalte Herzen
schwer. »Ich hasse es, wie ich ständig mehr will. Immer noch mehr! Irgend etwas treibt mich und treibt mich. Erst ging es darum, auf das College zu kommen, dann das Medizinstudium. Dann eine chirurgische Assistenz. Und jetzt die Stelle als Chirurgin. Ich habe mich so weit von meinen Anfängen entfernt. Damals wollte ich bloß Ärztin werden.«
»Aber das ist jetzt nicht mehr genug, oder?«
»Nein. Ich wünschte, es würde mir reichen. Aber das tut es nicht.«
»Dann verdirb nicht alles, Abby. Bitte. Um unser beider Willen.«
»So wie du das sagst, klingt es, als ob
du
derjenige wärst, der alles zu verlieren hat.«
»Ich habe deinen Namen ins Spiel gebracht. Ich habe ihnen gesagt, daß du die beste Wahl bist, die sie treffen können.« Er sah sie an. »Und das glaube ich immer noch.«
Eine Weile lagen sie schweigend da, nur ihre Hände berührten sich. Dann streckte er den Arm aus und strich über ihre Hüfte.
Es war keine wirkliche Umarmung, aber ein Versuch. Das war genug. Sie ließ sich von ihm in die Arme nehmen.
Das gleichzeitige Schrillen von einem halben Dutzend Piepern wurde gefolgt von einer knappen Durchsage über die Lautsprecheranlage des Krankenhauses:
»Atemstillstand, internistische Intensivstation, Atemstillstand, internistische Intensivstation.«
Abby schloß sich den anderen Assistenzärzten an, die die Treppe hinaufrannten. Als sie in die Intensivstation kam, drängte sich dort bereits medizinisches Personal. Ein Blick sagte ihr, daß genug Leute da waren, um sich um den Atemstillstand zu kümmern. Die meisten Assistenzärzte begannen bereits, den Raum wieder zu verlassen, und das wollte Abby auch gerade.
Dann sah sie, daß der Atemstillstand in Bett vier eingetreten war. In Josh O’Days mit Vorhängen abgeteiltem Stellplatz.
Sie drängte sich in das Knäuel aus weißen Kitteln und grünen OP-Hemden. In deren Mitte war Josh O’Day. Sein schmächtiger Körper lag im grellen Schein der Deckenlampen. Hannah Love führte eine Herzdruckmassage durch, wobei ihr blondes Haar mit jedem Stoß nach vorn schnellte. Eine andere Schwester zog aus den Schubladen des Rollwagens hektisch Ampullen und Spritzen hervor und gab sie den internistischen Assistenzärzten.
Abby warf einen Blick auf den Überwachungsmonitor.
Kammerflimmern. Das EKG-Muster eines sterbenden Herzens.
»Einen siebeneinhalber Trachealtubus!« rief eine Stimme. Erst jetzt bemerkte Abby die hinter Joshs Bett kauernde Vivian Chao, die das Laryngoskop schon vorbereitet hatte.
Die Schwester an dem Wagen riß die Plastikverpackung eines Trachealtubus auf und gab ihn Vivian.
»Beatmet ihn weiter!« befahl Vivian.
Eine technische Assistentin hielt Josh eine Anästhesiemaske ins Gesicht und drückte noch ein paarmal auf die ballonartigen Behälter, aus denen von Hand Sauerstoff in die Lungen des Jungen gepumpt wurde.
»Gut«, sagte Vivian, »Intubation.«
Die technische Assistentin nahm die Maske weg. Innerhalb von Sekunden hatte Vivian den Trachealtubus eingeführt und den Sauerstoff angeschlossen.
»Lidocain ist verabreicht«, meldete eine Schwester.
Die technische Assistentin sah auf den Monitor. »Weiter Kammerflimmern. Gebt mir noch mal die Elektroden.
Zweihundert Joule.«
Eine Schwester reichte ihr die Elektroden des Defibrillators, und sie legte sie auf der Brust zurecht. Die Stellen waren schon durch Kontaktplatten markiert, eine nahe am Brustbein, die andere neben der Brustwarze. »Alle zurücktreten.«
Der Stromstoß schoß durch Josh O’Days Körper und ließ jeden Muskel gleichzeitig krampfen. Der Junge zuckte grotesk und lag dann wieder reglos da.
Alle Augen schossen zum Überwachungsmonitor.
»Weiter Kammerflimmern«, sagte jemand. »Adrenalin 1:10.«
Hannah nahm ihre Herzdruckmassage automatisch wieder auf.
Ihr Gesicht war gerötet, sie schwitzte und wirkte wie benommen vor Angst.
»Ich kann übernehmen«, bot Abby an.
Hannah nickte und trat zur Seite.
Abby stieg auf die Fußbank und legte ihre Hände auf Joshs Brust, die Handflächen auf das untere Drittel des Brustbeins.
Seine Brust fühlte sich mager und schmächtig an, als könne sie unter ein paar kräftigen Stößen brechen. Abby hatte fast Angst, sich dagegen zu stemmen.
Sie fing an zu massieren. Es war eine Aufgabe, die keinerlei geistige Anstrengung erforderte. Nur dieser immer gleiche Bewegungsablauf: nach vorne beugen, entspannen, nach vorne beugen, entspannen, der Grundrhythmus der Wiederbelebung.
Sie war Teil des Chaos und doch weit
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