Kalte Herzen
vergrub Mark sich hinter einem Stapel chirurgischer Fachzeitschriften.
So reagierte er immer auf ihre Meinungsverschiedenheiten – mit Rückzug. Dabei hatte Abby gar nichts gegen einen guten, gesunden Streit. Die DiMatteo-Familie mit ihren drei eigensinnigen Töchtern und dem kleinen Pete hatte mehr als ihren Anteil an Pubertätskonflikten und Geschwisterstreitereien durchgemacht, ohne daß ihre Liebe füreinander deswegen je in Zweifel gestanden hätte. Abby wußte mit einem kernigen Streit umzugehen.
Was sie nicht ertragen konnte, war Schweigen.
Frustriert ging sie in die Küche und schrubbte das Waschbecken.
Ich werde wie meine Mutter, dachte sie angewidert. Ich bin wütend, und was tue ich? Ich mache die Küche sauber. Sie wischte die Herdplatte ab, nahm die einzelnen Gasbrenner auseinander und schrubbte auch die. Als sie schließlich hörte, wie Mark nach oben ins Schlafzimmer ging, blitzte die ganze verdammte Küche.
Sie folgte ihm.
Sie lagen in der Dunkelheit nebeneinander, ohne sich zu berühren. Sein Schweigen hatte sich auf sie übertragen, und sie wußte nicht, wie sie es durchbrechen sollte, ohne als die Bedürftige und Schwache zu erscheinen. Doch sie konnte es einfach nicht länger aushalten.
»Ich hasse es, wenn du das machst«, sagte sie schließlich.
»Bitte, Abby, ich bin müde.«
»Ich auch. Wir sind beide müde. Es kommt mir so vor, als ob wir immer nur müde wären. Aber so kann ich nicht einschlafen.
Und du auch nicht.«
»Also gut. Was soll ich sagen?«
»Irgendwas! Ich möchte nur, daß du weiter mit mir redest.«
»Ich sehe nicht, welchen Sinn es hat, Sachen zu Tode zu reden.«
»Es gibt Dinge, über die ich reden
muß.
«
»Gut. Ich höre.«
»Aber du verschanzt dich hinter einer Mauer. Ich komme mir vor wie bei der Beichte. Als ob ich durch ein Gitter mit einem Typ rede, den ich gar nicht sehen kann.« Sie seufzte und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich hatte sie das schwindelerregende Gefühl, frei und unangebunden zu schweben, ohne Verbindung zur Welt. »Dieser Junge auf der Intensivstation ist erst siebzehn«, sagte sie.
Mark erwiderte nichts.
»Er erinnert mich so an meinen Bruder. Pete war viel jünger.
Aber es gibt so eine Art falsche Tapferkeit, die alle Jungen haben. Pete besaß sie auch.«
»Es ist nicht allein meine Entscheidung«, sagte Mark. »Daran sind auch noch andere beteiligt. Das ganze Transplantationsteam. Aaron Levi, Bill Archer, sogar Jeremiah Parr.«
»Was hat der Klinikdirektor damit zu tun?«
»Parr möchte, daß unsere Statistiken gut aussehen. Und die Forschung bestätigt, daß nicht-stationäre Patienten bei Transplantationen eine sehr viel höhere Überlebenschance haben.«
»Ohne Transplantation hat Josh O’Day gar keine Überlebenschance.«
»Ich weiß, es ist eine Tragödie. Aber so ist das Leben.«
Sie lag reglos da, erschüttert von seinem nüchternen Ton.
Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie zog ihre Hand weg.
»Du könntest sie umstimmen«, sagte sie. »Du könntest sie überreden –«
»Es ist zu spät. Das Team hat entschieden.«
»Wer
ist
dieses Team überhaupt? Gott?«
Es entstand ein langes Schweigen, bevor Mark leise sagte:
»Paß auf, was du sagst, Abby.«
»Über das heilige Team, meinst du?«
»Was wir neulich abends bei Archer gesagt haben, haben wir alle so gemeint. Archer hat mir hinterher sogar erzählt, daß du die beste Assistenzärztin bist, die er in den letzten drei Jahren gesehen hat. Aber Archer ist sehr vorsichtig, was die Leute angeht, die er rekrutiert. Ich kann ihm deshalb keinen Vorwurf machen. Wir brauchen Leute, die mit uns zusammenarbeiten, nicht gegen uns.«
»Und wenn ich anderer Meinung bin als ihr alle?«
»Das gehört dazu, wenn man in einem Team ist, Abby. Wir haben alle unsere Ansichten. Doch wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam. Und daran halten wir uns dann auch.« Wieder streckte er die Hand nach ihr aus. Diesmal zog sie ihre Hand nicht weg, doch sie erwiderte seinen Druck nicht.
»Komm schon, Abby«, sagte er sanft. »Es gibt Assistenzärzte, die für eine Facharztstelle in der Transplantationschirurgie von Bayside morden würden. Und du kriegst deine praktisch auf dem Tablett serviert. Es
ist
doch das, was du wolltest, oder nicht?«
»Natürlich ist es das, was ich wollte. Es macht mir angst, wie sehr ich es will. Das Verrückte ist, daß ich gar nicht wußte, wie sehr ich es wollte, bis Archer die Möglichkeit aufgeworfen hat.«
Sie atmete tief ein und seufzte
Weitere Kostenlose Bücher