Kalte Herzen
Weile zu brauchen, bis er seinen Blick neu fokussiert hatte. Er antwortete nichts.
»Ist es in Ordnung, wenn Dr. DiMatteo dich untersucht?«
fragte Vivian.
»Warum?«
»Wenn du erst ein neues Herz hast, rennst du rum wie dieser verrückte Roadrunner im Fernsehen. Dann kriegen wir dich für eine Untersuchung nie mehr lange genug festgehalten.«
Josh lächelte. »Sie immer mit Ihren Sprüchen.«
Abby trat neben das Bett. Josh hatte sein Hemd schon hochgezogen und seine Brust entblößt. Sie war weiß und unbehaart, nicht die Brust eines Teenagers, sondern die eines Jungen. Abby legte ihre Hand auf seine Brust und spürte, daß sein Herz wie die Flügel eines Vogels in seinem Brustkorb flatterte.
Sie setze ihr Stethoskop an und hörte den Herzschlag ab, während sie die ganze Zeit den besorgten und mißtrauischen Blick des Jungen auf sich spürte. Sie kannte diesen Blick von Kindern, die zu lange auf Kinderstationen gelegen und gelernt hatten, daß jedes Paar Hände eine neue Variante des Schmerzes mit sich bringen konnten. Als sie sich schließlich aufrichtete und das Stethoskop in die Tasche ihres Kittels gleiten ließ, sah sie den Ausdruck der Erleichterung im Gesicht des Jungen.
»War das alles?« fragte er.
»Das war alles.« Abby strich ihren Krankenhauskittel glatt.
»Und? Wer ist deine Lieblingsmannschaft, Josh?«
»Wer wohl!«
»Ah, die Red Sox?«
»Mein Dad hat alle Spiele für mich aufgenommen. Wenn ich nach Hause komme, gucke ich sie mir alle an. Alle Bänder. Drei Tage nur Baseball.« Er sog heftig an dem Sauerstoffschlauch und blickte zur Decke. Leise fuhr er fort: »Ich will nach Hause, Dr. Chao.«
»Ich weiß«, sagte Vivian.
»Ich will mein Zimmer wiederhaben. Ich vermisse mein Zimmer.« Er schluckte, konnte ein Schluchzen jedoch nicht zurückhalten. »Ich will mein Zimmer sehen. Das ist alles. Ich will bloß mein Zimmer sehen.«
Sofort war Hannah zu ihm geeilt. Sie nahm den Jungen in die Arme und wiegte ihn hin und her. Er kämpfte gegen die Tränen, die Fäuste geballt, das Gesicht in ihrem Haar vergraben.
»Ist schon gut«, murmelte Hannah. »Wein dich einfach aus, mein Kleiner. Ich bin bei dir. Ist schon gut.« Hannahs und Abbys Blicke trafen sich über der Schulter des Jungen. Die Tränen auf dem Gesicht der Schwester waren nicht die des Jungen, sondern ihre eigenen.
Abby und Vivian verließen still das Zimmer.
Im Schwesternzimmer der Intensivstation sah Abby, wie Vivian in zweifacher Ausfertigung das Formular für den Lymphozytenkreuzvergleich zwischen Josh O’Days und Karen Terrios Blut unterschrieb.
»Wie bald kann er sich dem Eingriff unterziehen?« fragte Abby.
»Wir könnten gleich morgen früh zum OP bereitstehen. Je eher, desto besser. Der Junge hatte im Laufe des letzten Tages drei Episoden von Vorhofherzjagen. Bei einem derart instabilen Herzrhythmus hat er nicht viel Zeit.« Vivian drehte sich zu Abby um. »Ich fände es wirklich schön, wenn der Junge noch einmal ein Red-Sox-Match zu sehen bekäme. Sie nicht?«
Vivians Miene war ruhig und undurchdringlich wie immer.
Selbst wenn sie unter ihrer harten Schale weich wäre wie Butter, würde Vivian das nie zeigen, dachte Abby.
»Dr. Chao?« fragte die Stationsärztin.
»Ja?«
»Ich habe gerade wegen des Lymphozytenkreuzvergleichs in der Intensivstation angerufen. Sie haben gesagt, daß sie bei Karen Terrio bereits einen Kreuzvergleich vornehmen.«
»Großartig. Endlich sind meine Leute mal auf Draht.«
»Aber, Dr. Chao, er bezieht sich nicht auf Josh O’Day.«
Vivian drehte sich um und sah die Sekretärin an. »Was?«
»Die Intensivchirurgie sagt, daß es um jemand anderen geht.
Eine Privatpatientin namens Nina Voss.«
»Aber Joshs Zustand ist kritisch! Er steht ganz oben auf der Liste.«
»Sie haben nur gesagt, daß das Herz an die andere Patientin gehen soll.«
Vivian sprang auf und machte drei schnelle Schritte zum Telefon. Einen Augenblick später hörte Abby sie sagen: »Hier ist Dr. Chao. Ich will wissen, wer die Lymphozytenkreuzprobe mit Karen Terrio angeordnet hat.« Sie lauschte und hängte dann stirnrunzelnd auf.
»Haben Sie den Namen?« fragte Abby.
»Ja.«
»Wer hat es angeordnet?«
»Mark Hodell.«
Vier
A bby und Mark hatten für den Abend bei Mirabel’s, einem Restaurant in der Nähe ihres Hauses in Cambridge, einen Tisch reserviert. Obwohl sie mit diesem Essen eigentlich das sechsmonatige Jubiläum von Abbys Einzug bei Mark hatten feiern wollen, war die Stimmung an ihrem Tisch alles
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