Kalte Herzen
entfernt, weil sie sich innerlich zurückzog. Abby brachte es nicht über sich, ins Gesicht des Jungen zu sehen oder zu beobachten, wie Vivian den Trachealtubus mit Klebeband fixierte. Sie konnte sich nur auf seine Brust konzentrieren, auf den Kontaktpunkt zwischen seinem Brustbein und ihren verschränkten Händen. Ein Brustbein war anonym. Es könnte irgend jemandes Brust sein.
Die eines alten Mannes zum Beispiel, eines Fremden.
Vorbeugen, entspannen.
Sie konzentrierte sich. Vorbeugen, entspannen.
»Wieder alle zurücktreten!« rief jemand.
Abby zog ihre Hände weg. Ein erneuter Stromstoß fuhr durch die Elektroden, ein weiteres groteskes Zucken.
Kammerflimmern. Ein Herz zeigt an, daß es nicht mehr weiterkann.
Abby verschränkte die Hände und legte sie wieder auf die Brust des Jungen. Vorbeugen, entspannen. Komm zurück, Joshua, sagten ihre Hände zu ihm. Komm zu uns zurück.
Eine neue Stimme durchdrang den allgemeinen Lärm. »Man könnte es mit Kalziumchlorid versuchen. Hundert Milligramm«, sagte Aaron Levi. Er stand am Fußende des Bettes und hatte den Blick starr auf den Monitor gerichtet.
»Aber wir haben schon Digoxin verabreicht«, gab der internistische Assistenzarzt zu bedenken.
»Wir haben nichts mehr zu verlieren.«
Eine Schwester zog die Spritze auf und gab sie dem Assistenzarzt. »Hundert Milligramm Kalziumchlorid.«
Das Kalziumchlorid wurde in den Schlauch in Joshs Vene injiziert. Es war, als würde man einen Glückspfennig in den chemischen Wunschbrunnen werfen.
»Jetzt legt die Elektroden noch einmal an«, befahl Aaron.
»Vierhundert Joule diesmal.«
»Alle zurück!«
Abby trat zurück. Die Gliedmaßen des Jungen zuckten und erstarrten wieder.
»Noch einmal«, ordnete Aaron an.
Ein weiterer Stoß. Die Anzeige auf dem Monitor schlug stark aus. Als sie wieder zur Grundlinie absank, zeigte sich ein einzelnes Signal, der gezackte Ausschlag eines QRS-Komplexes.
Aber es verfiel sofort wieder zu Kammerflimmern.
»Ein letztes Mal!« befahl Aaron.
Die Elektroden wurden erneut auf die Brust gelegt. Der Körper zuckte heftig unter dem Schock von vierhundert Joule.
Dann wurde es plötzlich still, und alle Blicke huschten zum Monitor.
Ein QRS-Komplex zuckte über den Bildschirm. Dann noch einer. Und noch einer.
»Wir sind im Sinusrhythmus«, sagte Aaron.
»Ich spüre seinen Puls!« rief eine der Schwestern. »Ich spüre seinen Puls!«
»Blutdruck über vierzig … jetzt neunzig zu fünfzig …«
Der Raum schien in einem kollektiven Seufzer der Erleichterung aufzuatmen. Am Fuß des Bettes weinte Hannah Love hemmungslos. Willkommen zurück, Josh, dachte Abby.
Ihr Blick war von Tränen verschleiert.
Die anderen Assistenzärzte verließen nach und nach das Zimmer. Doch Abby brachte es nicht über sich, zu gehen; sie fühlte sich zu erschöpft, um nahtlos mit ihrer normalen Arbeit weiterzumachen. Schweigend half sie den Krankenschwestern, die gebrauchten Spritzen und Ampullen einzusammeln, das Glas und Plastik, das nach einem Herzkreislaufkollaps zurückblieb.
Neben ihr schniefte Hannah Love, während sie mit einem Waschlappen liebevoll die Elektrodensalbe von Joshs Brust wischte.
Es war Vivian, die das Schweigen schließlich brach.
»Er könnte in diesem Moment ein neues Herz kriegen«, sagte sie. Sie stand vor dem Nachttisch mit Joshs Trophäen und nahm das Band der Jungpfadfinder zur Hand. Pinewood-Derby, dritte Klasse. »Er hätte heute morgen in den OP gerollt werden können. Um zehn Uhr wäre das Transplantat eingepflanzt gewesen. Wenn wir ihn verlieren, ist es Ihre Schuld, Aaron.«
Vivian Chao sah Aaron Levi an, dessen Stift bei der Unterschrift unter das Krankenblatt erstarrte.
»Dr. Chao«, sagte Aaron leise. »Möchten Sie gern unter vier Augen darüber sprechen?«
»Es ist mir egal, wer zuhört! Empfänger und Spender waren perfekt kompatibel. Ich wollte Josh heute morgen auf dem OP-Tisch haben. Aber Sie wollten keine klare Zustimmung geben.
Sie haben die Entscheidung einfach verzögert. Und verzögert und noch mal verzögert.« Sie atmete tief ein und betrachtete Joshs Medaille in ihrer Hand. »Ich weiß nicht, was Sie sich dabei denken. Sie alle.«
»Ich werde diese Angelegenheit nicht mit Ihnen erörtern, bevor Sie sich wieder beruhigt haben«, erwiderte Aaron, drehte sich um und verließ das Zimmer.
»Und ob! Und ob Sie das tun werden«, rief Vivian und setzte ihm nach.
Durch die offene Tür hörte Abby, wie Vivian Aaron durch die Intensivstation verfolgte. Sie
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