Kalte Herzen
er.
»Ich bin der Kurier. Wie läuft es?«
»Eine Weile stand es auf Messers Schneide. Aber wir haben das Schlimmste überstanden. Tarasoff ist schnell. Er ist schon an der Aorta.« Er nickte zu dem leitenden Chirurgen hinüber.
Mit seinem schneeweißen Augenbrauen und seinem milden Blick sah Ivan Tarasoff aus wie der Inbegriff von jedermanns Lieblingsopa. Er trug seine Bitten um eine frische Nadel oder mehr Aspiration in demselben Tonfall vor, in dem man vielleicht um eine weitere Tasse Tee gebeten hätte. Kein Showgehabe, kein übersteuertes Geltungsbedürfnis, nur ein stiller Mechaniker, der seine Arbeit erledigte.
Abby blickte wieder zum Monitor. Noch immer eine flache Linie.
Noch immer kein Lebenszeichen.
Im Warteraum weinten Josh O’Days Eltern, Schluchzen mischte sich mit einem erleichtertem Lachen. Strahlende Gesichter allenthalben. Es war achtzehn Uhr, und ihre Tortur war endlich vorüber.
»Das neue Herz arbeitet prächtig«, erklärte Dr. Tarasoff. »Es hat sogar früher angefangen zu schlagen, als wir erwartet hatten.
Es ist ein gutes, kräftiges Herz. Damit sollte Josh ein Leben lang auskommen.«
»Das haben wir nicht erwartet«, beteuerte Mr. O’Day. »Wir haben nur gehört, daß er hierherverlegt wurde. Daß es einen Notfall gegeben hätte. Wir dachten – wir dachten –« Er wandte sich ab und schlang die Arme um seine Frau. Wortlos klammerten sie sich aneinander. Sie waren einfach nicht in der Lage, weiterzusprechen.
»Mr. und Mrs. O’Day?« fragte eine Schwester sanft. »Wenn Sie Josh sehen wollen, er wacht gerade auf.«
Ein lächelnder Tarasoff beobachtete, wie die O’Days ins Aufwachzimmer geführt wurden. Dann drehte er sich um und sah Abby an. Seine blauen Augen blitzten hinter seiner Nickelbrille. »Deswegen tun wir es«, sagte er leise. »Für Augenblicke wie diesen.«
»Es war knapp«, sagte Abby.
»Verdammt knapp.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich werde verdammt zu alt für diese Aufregung.«
Sie gingen in den OP-Aufenthaltsraum, wo er ihnen beiden eine Tasse Kaffee eingoß. Ohne seine Haube und mit zerzaustem grauen Haar sah er eher aus wie ein zerstreuter Professor und nicht wie ein berühmter Thoraxchirug. Er reichte Abby ihre Tasse an. »Sagen Sie Vivian, das nächste Mal soll Sie mich vorher warnen«, sagte er. »Ich erhalte einen Anruf, und plötzlich wartet der Junge vor unserer Tür. Ich war derjenige, der beinahe kollabiert hätte.«
»Vivian wußte, was sie tat, als sie den Jungen zu Ihnen geschickt hat.«
Er lachte. »Vivian Chao weiß immer, was sie tut. Sie war schon als Medizinstudentin so.«
»Sie ist eine großartige leitende Assistenzärztin.«
»Sind Sie in dem Chirurgen-Programm am Bayside?«
Abby nickte und schlürfte ihren heißen Kaffee. »Im zweiten Jahr.«
»Gut. Es gibt nicht genug Frauen in dieser Branche. Aber zu viele Macho-Schlitzer, die immer nur schneiden wollen.«
»Das klingt aber gar nicht nach einem Chirurgen.«
Tarasoff blickte zu den anderen Ärzten, die um die Kaffeemaschine standen. »Ein bißchen Blasphemie«, flüsterte er, »ist gut für die Gesundheit.«
Abby leerte ihre Tasse und sah auf die Uhr. »Ich muß zurück zum Bayside. Ich hätte wahrscheinlich gar nicht zur Operation bleiben dürfen. Aber ich bin trotzdem froh, daß ich es getan habe.« Sie lächelte ihn an. »Vielen Dank, Dr. Tarasoff. Dafür, daß sie dem Jungen das Leben gerettet haben.«
Er schüttelte ihre Hand. »Ich bin bloß der Klempner, DiMatteo«, sagte er. »Sie haben das lebenswichtige Teil gebracht.«
Es war nach sieben, als ein Taxi sie vor dem Haupteingang des Bayside-Hospital absetzte. Als sie das Krankenhaus betrat, hörte sie als erstes, wie ihr Name über Lautsprecher ausgerufen wurde. Sie nahm das Haustelefon ab.
»Hier ist DiMatteo«, meldete sie sich.
»Wir piepsen Sie schon seit Stunden an, Dr. DiMatteo«, sagte die Telefonistin vorwurfsvoll.
»Vivian Chao sollte für mich einspringen. Sie hat meinen Pieper.«
»Wir haben Ihren Pieper hier in der Zentrale. Und derjenige, der Sie hat suchen lassen, war Mr. Parr.«
»Jeremiah Parr?«
»Seine Durchwahl ist fünf-sechs-sechs. Verwaltung.«
»Es ist sieben Uhr. Ist er noch da?«
»Vor fünf Minuten war er jedenfalls noch da.«
Abby legte auf, ihr Magen kribbelte alarmiert. Jeremiah Parr, der Direktor des Krankenhauses, war ein Verwaltungsmann, kein Arzt. Sie hatte erst einmal mit ihm gesprochen, auf dem jährlichen Begrüßungspicknick für neue Mitarbeiter. Sie hatten einander
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