Kalte Herzen
die Hand geschüttelt und ein paar Nettigkeiten ausgetauscht, bevor Parr die anderen Assistenzärzte willkommen geheißen hatte. Diese kurze Begegnung hatte in ihr den lebhaften Eindruck eines Mannes hinterlassen, der unerschütterlich war.
Und graue Anzüge trug.
Natürlich hatte sie ihn seit dem Picknick noch ein paarmal gesehen. Sie lächelten sich an und nickten einander zu, wenn sie sich im Fahrstuhl oder auf den Fluren begegneten. Doch sie bezweifelte, daß er sich an ihren Namen erinnerte. Jetzt ließ er sie um sieben Uhr abends anpiepen.
Das kann nichts Gutes bedeuten, dachte sie. Das kann ganz und gar nichts Gutes bedeuten.
Sie griff wieder zum Telefon und wählte Vivians Privatnummer. Bevor sie mit Parr sprach, mußte sie wissen, was los war.
Vivian würde es wissen. Es nahm niemand ab.
Beunruhigter denn je, legte Abby auf. Es war Zeit, sich den Konsequenzen zu stellen. Wir haben eine Entscheidung getroffen, wir haben das Leben eines Jungen gerettet. Wie kann man uns daraus einen Vorwurf machen? dachte sie.
Mit pochendem Herzen nahm sie den Aufzug in den ersten Stock. Der Verwaltungstrakt wurde von einer Reihe Neondeckenlampen nur schwach beleuchtet. Abby ging unter dem Lichtstreifen entlang, ihre Schritte wurden vom Teppich geschluckt. Die Büros zu beiden Seiten des Flures waren verlassen, doch am Ende des Korridors schimmerte Licht unter einer geschlossenen Tür hindurch. Jemand war im Konferenzzimmer.
Sie ging auf die Tür zu und klopfte an.
Die Tür ging auf. Vor ihr stand Jeremiah Parr und sah sie an, seine Miene war im Gegenlicht unergründlich. An dem Konferenztisch hinter ihm saß ein halbes Dutzend Männer.
Abby erkannte Bill Archer, Mark und Mohandas. Es war das Transplantationsteam.
»Dr. DiMatteo«, sagte Parr.
»Tut mir leid, ich wußte nicht, daß Sie versucht haben, mich zu erreichen«, erklärte Abby. »Ich hatte das Krankenhaus verlassen.«
»Wir wissen, wo Sie waren.« Parr trat aus dem Zimmer. Mark folgte ihm. Beide Männer standen Abby in dem düsteren Flur gegenüber. Die Tür stand offen, doch dann sah Abby, wie Archer sich erhob und die Tür vor ihrer Nase schloß.
»Kommen Sie in mein Büro«, forderte Parr sie auf. Sobald sie eingetreten waren, schlug er die Tür zu und sagte: »Haben Sie eine Vorstellung von dem Schaden, den Sie angerichtet haben?
Haben Sie auch nur eine Ahnung davon?«
Abby sah Mark an, doch dessen Gesicht war leer. In solchen Momenten machte er ihr am meisten angst: Wenn sie hinter der Maske nicht den Mann erkennen konnte, den sie liebte.
»Josh O’Day lebt«, sagte sie. »Die Transplantation hat ihm das Leben gerettet. Ich kann darin keinen Fehler erkennen.«
»Der Fehler liegt darin,
wie
es geschehen ist«, sagte Parr.
»Wir standen vor seinem Bett und haben gesehen, daß er starb. Ein Junge in seinem Alter sollte nicht –«
»Abby«, sagte Mark. »Wir stellen deine Instinkte ja gar nicht in Frage. Sie waren gut, natürlich waren sie das.«
»Was soll das Gefasel von Instinkten, Hodell?« fauchte Parr.
»Sie haben ein Spenderherz gestohlen! Sie wußten, was sie taten, und es war ihnen egal, wen sie sonst noch reingerissen haben! Schwestern, Krankenwagenfahrer. Sogar Dr. Lim ist in die Sache hineingezogen worden!«
»Den Anweisungen der leitenden Assistenzärztin zu folgen, ist genau das, was von Abby erwartet wird. Und das ist alles, was sie getan hat. Sie hat Befehle ausgeführt.«
»Die Sache muß Konsequenzen haben. Die leitende Assistenzärztin zu feuern, reicht nicht.«
Feuern? Vivian?
Abby suchte in Marks Gesicht nach Bestätigung.
»Vivian hat alles aufgeklärt«, sagte Mark. »Sie hat zugegeben, daß sie dich und die Schwestern gezwungen hat, mitzumachen.«
»Ich glaube kaum, daß sich Dr. DiMatteo so leicht zu irgendwas zwingen läßt«, bemerkte Parr.
»Was ist mit Lim?« fragte Mark. »Er war auch im OP. Wollen Sie den auch rausschmeißen?«
»Lim hatte keine Ahnung, was vor sich ging«, sagte Parr. »Er war bloß anwesend, um die Nieren zu entnehmen. Er wußte nur, daß im Massachusetts General ein Empfänger auf dem OP-Tisch lag und daß sich in der Krankenakte eine empfängergebundene Spendererklärung befand.« Parr wandte sich an Abby.
»Aufgesetzt von Ihnen und in Ihrem Beisein unterschrieben.«
»Joe Terrio hat sie freiwillig unterschrieben«, sagte Abby. »Er hat eingewilligt, daß das Herz an den Jungen gehen sollte.«
»Und das bedeutet, daß niemand wegen Organdiebstahls belangt werden kann«, bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher