Kalte Herzen
Sie hat das Leben ihres Patienten gerettet. Dafür schmeißt man doch niemanden raus!«
»Sie hat die oberste Regel an diesem Krankenhaus verletzt.
Und die lautet: Spiele mit dem Team, nicht dagegen. Dieses Krankenhaus kann es sich nicht leisten, Kanonen wie Vivian Chao zu verlieren. Aber ein Arzt ist entweder für oder gegen uns.« Er machte eine Pause. »Wo stehst du?«
»Ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Tränen erneut flossen. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Bedenke deine Alternativen, Abby. Oder besser deren Mangel. Vivian hatte ihre fünfjährige Assistenzarztzeit schon hinter sich. Als Fachärztin kann sie sich überall bewerben oder eine chirurgische Praxis eröffnen. Aber du hast nur deinen Arzt im Praktikum. Wenn sie dich jetzt rausschmeißen, wirst du nie Chirurgin. Was willst du dann machen? Willst du den Rest deines Lebens als Vertrauensärztin bei einer Versicherung fristen? Ist es das, was du willst?«
»Nein.« Sie atmete tief ein und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Nein.«
»Was
willst
du dann?«
»Ich weiß genau, was ich will!« Erneut wischte sie sich wütend über das Gesicht und atmete noch einmal tief ein. »Ich wußte es heute nachmittag, als ich Tarasoff im OP zugesehen habe. Ich habe gesehen, wie er das Spenderherz genommen hat, leblos wie ein Stück Fleisch. Auf dem OP-Tisch lag der Junge.
Und Tarasoff hat das Herz eingesetzt, und es fing wieder an zu schlagen. Und auf einmal war da wieder Leben.« Sie schluckte gegen einen weiteren Schwall von Tränen an. »Da wußte ich, was ich will. Ich will das tun, was Tarasoff tut.« Sie sah Mark an. »Kindern wie Josh O’Day ein Stück Leben einpflanzen.«
Mark nickte. »Dann mußt du etwas dafür tun. Abby, wir können es noch immer schaffen. Deinen Job, die Stelle als Fachärztin, alles.«
»Ich wüßte nicht, wie.«
»Ich bin derjenige, der deinen Namen für das Transplantationsteam ins Spiel gebracht hat. Du bist nach wie vor meine erste Wahl. Ich kann mit Archer und den anderen reden. Wenn wir alle zu dir halten, muß Parr einen Rückzieher machen.«
»Das ist aber ein ziemlich großes Wenn.«
»Du kannst deinen Teil dazu beitragen. Zunächst einmal, indem du Vivian die Schuld auf sich nehmen läßt. Sie war die leitende Assistenzärztin. Sie hat eine falsche Entscheidung getroffen.«
»Aber das hat sie nicht!«
»Du kennst nur das halbe Bild. Du hast die andere Patientin noch nicht gesehen.«
»Welche andere Patientin?«
»Nina Voss. Sie wurde heute nachmittag aufgenommen.
Vielleicht solltest du sie dir einmal ansehen. Mach dir selbst ein Bild davon, ob die Wahl tatsächlich so klar war, ob du nicht möglicherweise doch einen Fehler gemacht hast.«
Abby schluckte. »Wo ist sie?«
»Im dritten Stock, auf der internistischen Intensivstation.«
Schon vom Flur konnte Abby den Aufruhr in der Intensivstation hören: das Stimmengewirr, das Quietschen eines tragbaren Röntgengeräts, zwei Telefone, die gleichzeitig klingelten. In dem Moment, in dem sie die Station betrat, spürte sie das Schweigen, das sich über den Raum senkte. Sogar die Telefone verstummten plötzlich. Einige der Schwestern starrten sie an; die meisten sahen demonstrativ weg.
»Dr. DiMatteo«, sagte Aaron Levi. Er war gerade aus Raum fünf gekommen und fixierte sie mit einem Blick kaum unterdrückter Wut. »Vielleicht sollten Sie sich das ansehen«, sagte er.
Das versammelte Personal trat schweigend zur Seite, um Abby vorzulassen. Sie ging an das Fenster zu Raum fünf. Durch die Scheibe sah sie eine Frau in einem Bett liegen, eine zerbrechlich aussehende Frau mit weißblonden Haaren, das Gesicht bleich wie die Laken. Ein Trachealtubus war in ihren Hals eingeführt und an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Sie kämpfte mit der Maschine, ihre Brust bewegte sich krampfartig, während sie versuchte, Luft einzusaugen. Doch die Maschine wollte nicht kooperieren. Alarmsignale schrillten, während die Maschine das verzweifelte Ringen der Frau um Atem ignorierte und sie nach einem voreingestellten Rhythmus weiter beamtete. Beide Hände der Frau waren fixiert. Ein Assistenzarzt führte am Handgelenk der Patientin einen Arterienschlauch ein, er stach tief unter die Haut und führte den Plastikkatheter in die Speichenarterie ein.
Das andere, ans Bett gefesselte Handgelenk der Frau sah aus wie ein Nadelkissen aus Infusionsschläuchen und Blutergüssen.
Eine Schwester sprach auf die Patientin ein und versuchte, sie zu beruhigen,
Weitere Kostenlose Bücher