Kalte Spur
noch nicht zu Hause.« Jessica fischte einen kleinen schwarzen Hut mit Tüllschleier aus dem Haufen und setzte ihn auf. »Aber ich frag ihn, wenn er kommt.«
Die drei Mädchen standen Schulter an Schulter vor dem Spiegel über Jessicas Kommode und trugen mit nur Zentimeter vom Glas entferntem Gesicht Make-up auf. Sie waren verkleidet: Hailey trug den Chirurgenkittel, Jessica ein weißes Satinkleid mit unechten Perlen, Lucy den Samtfummel, Stöckelschuhe und die Schärpe vom Schönheitswettbewerb.
Trotz ihres Gekichers entging ihnen der Wortwechsel im Wohnzimmer am Fuß der Treppe nicht.
»Worüber streiten die?«, flüsterte Hailey und beugte sich noch weiter vor, um Rouge aufzutragen.
Jessica zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Fragst du deinen Dad, ob wir raus dürfen?«
»Wenn wir fertig sind. Lucy, du siehst toll aus.«
Die Gelobte warf ihrem Spiegelbild einen Handkuss zu, und die beiden anderen lachten. Lucys Lippen waren leuchtend rot geschminkt, ihre Lider blau schattiert.
»Schimpft deine Mutter nicht, wenn ich ihr Banner trage?«
»Das glaub ich nicht. Und das Ding heißt Schärpe.«
Die lauten Stimmen von unten machten Lucy nervös. Nicht dass ihre Eltern sich noch nie gestritten hätten, im Gegenteil. Dass es eine Auseinandersetzung gegeben hatte, merkte sie mitunter an der Stille beim Abendessen oder der übergroßen Höflichkeit, wenn jemand ums Salz bat. Doch sie hatte ihre Eltern nie gegeneinander laut werden hören, auch nicht hinter verschlossenen Türen. Ihre Streitereien trugen sie anderswo aus oder dann, wenn niemand sonst daheim war. Als sie die Stimmen hörte, kam sie zu dem Schluss, es sei besser, nicht in der Nähe von Kindern zu streiten.
Wie sie so an Jessicas Fenster im ersten Stock standen, sahen sie, wie Lucy fand, wie heiße Feger aus. Sie hatten sich parfümiert,
nein, eingedieselt. Nun beobachteten sie, wie zwei dunkle, brandneue Limousinen die Einfahrt hochkamen und vor der Veranda am Eingang hielten.
»Wer sind die?«, fragte Hailey, als sich die Fahrertüren öffneten. Zwei ältere Frauen stiegen aus. Beide waren groß und knochig und trugen bedruckte, altmodische Kleider, die nicht zur Jahreszeit passten.
Die Frauen sahen sich ähnlich und doch wieder nicht. Wie Schwestern vielleicht.
»Ich glaube, sie heißen Overcast«, sagte Jessica.
»Sind das Schwestern?«, wollte Lucy wissen.
»Ja.«
»Und beide unverheiratet?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich.«
»Seht mal – beide tun, als sei die andere Luft«, sagte Hailey. »Ist das nicht seltsam?«
Lucy hatte es auch bemerkt. Die Frauen waren ausgestiegen, hatten ihre Tür zugemacht und waren zum Haus gegangen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Jetzt standen sie unter dem Dach des Säulenvorbaus und waren von oben nicht mehr zu sehen.
»Overstreet«, sagte Jessica. »So heißen sie. Denen gehört eine Ranch oder so.«
»Beiden?«, fragte Lucy.
»Ich denke schon«, erwiderte Jessica. »Ich bin ihnen ein paarmal begegnet, aber ich mag sie nicht.«
»Warum nicht?«
Jessica schüttelte sich. »Die sind einfach eklig. Und sie riechen komisch.«
Hailey lachte nervös. »Womöglich ist das der richtige Moment, um zu fragen, ob wir draußen spielen dürfen.«
Die Mädchen sahen sich an und wussten, dass sie recht
hatte. Wenn Gäste die Eltern ablenkten, ließ sich ihnen am besten eine Erlaubnis aus den Rippen leiern.
Lucy kam gleich hinter Jessica die Treppe runter. Die Schwestern Overstreet und die Logues hatten eine Diskussion.
Jessicas Dad sagte: »Ja, ich habe heute von den Kühen gehört.«
»Und Sie wissen, dass wir unerklärlicherweise Vieh verloren haben«, erklärte die eine Schwester.
»Welche Auswirkungen hat das auf den Verkauf?«, fragte die andere.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Makler. »Aber vielleicht sollten wir den Preis senken, damit die Ranch für Käufer attraktiv bleibt.«
»Ich wusste, dass Sie das vorschlagen würden.«
»Damit sind wir nicht einverstanden, wissen Sie.«
»Es ist nur so, dass …«
»Cam, wir haben Besuch«, unterbrach ihn Jessicas Mutter.
Lucy sah Mr. Logue und die Schwestern Overstreet innehalten und die Treppe hinaufblicken.
»Oha«, entfuhr es der einen Schwester, »was ist das denn?«
Beide Frauen starrten die verkleideten Mädchen kalt an. Ihre Augen wirkten wie alte Edelsteine, zwei blaue, zwei grüne.
»Die sehen ja aus wie kleine Flittchen«, sagte die andere Schwester und erntete dafür von Jessicas Mutter einen zornigen
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