Kalte Spur
logischen Erklärung. Mehrere Rinder – so hieß es – seien in einer gut zehn Zentimeter tiefen Mulde gefunden worden, als wären sie vom Himmel gefallen. Die auffälligste Ähnlichkeit waren die präzise geführten Schnitte, die den Tieren offenbar mit einem sehr scharfen Instrument beigebracht worden waren.
… »Es besteht kein Anlass zur Sorge«, mahnte Sheriff Barnum. »Es könnte eine ganz einfache Erklärung dafür geben.«
Auf Nachfrage wollte er sich nicht näher äußern.
»Wir möchten nicht, dass die anständigen Bewohner unseres Countys ihre Haustiere einsammeln und den Himmel nach Aliens absuchen«, so Hilfssheriff Kyle McLanahan.
Joe musste widerwillig lächeln. Barnum war von diesem Zitat sicher begeistert.
Er öffnete sein Mail-Programm und überflog die eingegangenen Nachrichten. Das Labor in Laramie hatte sich noch nicht auf die eingesandten Proben hin gemeldet.
Eine Mail stammte von Trey Crump, seinem direkten Vorgesetzten in Cody. Im Betreff stand »???«. Joe öffnete die Nachricht.
»Was ist mit diesen Kühen und dem Elch?«, schrieb Crump.
»Sie haben wohl einen Narren an toten Rindviechern gefressen?«
Joe atmete tief durch, ehe er antwortete. Über Crumps Stichelei mit den Rindviechern ging er hinweg. Zwei Jahre zuvor waren ein Umweltaktivist und seine Frau sowie ein weiterer Mann von Kühen getötet worden, denen man Sprengstoff umgeschnallt hatte. Joe war in den Fall hineingeschlittert. Was Crumps erste Frage anging, wollte er nicht spekulieren.
»Die Gewebeproben sind zur Untersuchung in Laramie«, tippte er. »Ich behalte künftige Vorfälle im Auge, vor allem, wenn sie Wildtiere betreffen.«
Joe öffnete seinen Browser, ging auf die Website des Saddlestring Roundup und kopierte den Link zu dem Bericht über die Verstümmelungen in seine Mail, damit Trey ihn lesen konnte.
»Es gibt vermutlich eine Erklärung«, schrieb er. »Ich arbeite daran, sie zu finden.«
Er fügte hinzu, dass er riesige Bärenspuren in der Nähe des Elchs gefunden hatte. »Ob das unser gefährlicher Grizzly ist?«
Dann las er den Text noch mal durch, löschte die letzte Zeile und verschickte ihn.
Als Joe das Mail-Programm schon verlassen wollte, landete eine umfangreiche Nachricht in seinem Posteingang. Als sie endlich hochgeladen war, stellte er fest, dass sie von Dave Avery kam. Seit vor Jahren Proben, die er zur Analyse eingeschickt hatte, in der Zentrale »verloren« gegangen waren, hatte Joe kein volles Vertrauen mehr in die Verwaltung seiner Behörde. Deshalb holte er mitunter zusätzlich die Meinung von Dave Avery ein, einem alten Mitbewohner aus Studienzeiten,
der nun Leitender Wildbiologe der Fischerei- und Jagdbehörde von Montana in Helena war. Joe war bei Daves ersten beiden Hochzeiten Trauzeuge gewesen, hatte sich aber, als der ihn im letzten Sommer erneut darum gebeten hatte, damit entschuldigt, er bringe ihm womöglich Unglück.
Es gab weder Betreff noch Nachricht, nur einen Anhang von sechs Fotos. Joe lehnte sich zurück, wartete darauf, dass die Dateien aufgingen, und ärgerte sich wie stets über die lahme Verbindung.
Er fuhr mit dem Cursor die Fotos entlang und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.
Die Aufnahmen zeigten verstümmelte Rinder auf einer Wiese. Er erkannte die Wunden, die geblähten Bäuche, die irre grinsenden Schädel und fragte sich, wie Dave so rasch an die Bilder gekommen war. Dann aber fiel ihm etwas auf.
In der oberen rechten Ecke des zweiten Fotos war der Himmel dunkel und bleiern. Und auf dem vierten Bild war im Vordergrund ein schmaler Streifen Schnee zu sehen. Das Gras war gelblich verfärbt, fast grau. Diese Aufnahmen waren im Winter gemacht worden. Und zwar woanders.
Joe beendete die Internetverbindung, um telefonieren zu können, suchte Dave Averys Nummer heraus und tippte sie ein. Sein Freund war beim dritten Läuten am Apparat.
»Avery.«
»Dave, hier ist Joe Pickett.«
»Joe! Mensch, wie geht’s?«
»Gut.«
»Ich hatte deinen Anruf schon fast erwartet.«
»Ja«, sagte Joe und fuhr die Fotos auf dem Bildschirm erneut mit dem Cursor ab. »Ich hab deine Mail hier und frage mich, wo die Bilder gemacht wurden.«
»Mann, hast du schon mal von Small Talk gehört? Von der
Frage, wie’s mir vielleicht so geht oder wie das Wetter in Helena ist?«
Joe seufzte. »Also, Dave, wie geht’s dir? Wie ist das Wetter in Helena?«
»Die Fotos wurden nahe Conrad, Montana, geschossen. Im Januar. Weißt du, wo das
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