Kalte Stille - Kalte Stille
Blut verloren. Wie wir festgestellt haben, muss er vor
dem Vorfall eine größere Menge blutverdünnender Schmerzmittel auf Acetylsalicylsäurebasis eingenommen haben. Aspirin, schätze ich. Wir haben ihm eine Transfusion verabreicht und seinen Kreislauf stabilisieren können. Jetzt heißt es beten, dass der Organismus nicht zusammenbricht.«
Noch immer hatte Jan einen Kloß im Hals. Es war die Angst, die ihn seit seiner Jugend beherrschte - die Angst, wieder einen nahestehenden Menschen zu verlieren.
»Wie stehen seine Chancen?«
»Wissen Sie«, Dr. Mehra lächelte Jan an, wobei eine Reihe blendend weißer Zähne zum Vorschein kam, »ich glaube an die Macht der positiven Lebenseinstellung. Wenn wir in Harmonie mit unserem Leben stehen, dann meint es das Schicksal gut mit uns. Deshalb ziehe ich es vor, der guten körperlichen Konstitution Ihres Freundes zu vertrauen. Versprechen kann und will ich nichts, aber wenn er heute Nacht den Kampf gewinnt, hat er eine Chance.«
Jan hätte das Lächeln des Arztes gern erwidert, aber es ging nicht. Glauben, noch dazu an das Positive, fiel verdammt schwer, wenn man sich ständig auf der dunklen Seite des Lebens wiederfand. Trotzdem spürte er eine Art wohltuender Wärme in den Worten des Arztes, und dafür war er dankbar.
»Ihr Freund hatte im Übrigen Glück im Unglück, wenn ich das so sagen darf«, fuhr Dr. Mehra fort. »Der Gegenstand, mit dem man ihn niedergeschlagen hat, muss eine Spitze, einen länglichen Fortsatz gehabt haben …«
Jan nickte. »Ja, der Arm einer Holzstatue.«
»Das dachte ich mir«, sagte Sikandar Mehra. »Dieser Arm hat sein Ziel buchstäblich um Haaresbreite verfehlt
und ist stattdessen seitlich am Schädel vorbeigestreift. Dadurch wurde Herrn Marenburg zwar die Kopfschwarte durchtrennt und das rechte Ohr fast abgerissen, aber wir haben das wieder hinbekommen. Ihm werden nicht mehr als ein paar Narben davon bleiben.«
Jan fröstelte, als würde man ihm Eiswasser über den Rücken gießen. »Kann ich zu ihm?«
»Ihr Freund braucht jetzt vor allem Ruhe.« Dr. Mehra griff nach Jans Handgelenk und drückte es freundschaftlich. »Und Sie auch, wie es aussieht. Kommen Sie morgen wieder. Bis dahin sollten Sie auf die Macht des positiven Denkens vertrauen. Es kann mehr bewegen, als Sie ihm zugestehen würden, glauben Sie mir.«
Er ließ Jans Hand los und wandte sich zum Gehen. Beim Aufzug angekommen, sah er sich noch einmal zu Jan um. »Sagen Sie, Herr Kollege, mag Herr Marenburg klassische Musik?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jan erstaunt. »Schätze schon. Warum fragen Sie?«
»Ich werde ihm etwas Mozart vorspielen lassen. Wussten Sie, dass Mozarts Musik eine heilende Wirkung hat?«
»Ich habe davon gehört.«
»Es gibt Studien, die das belegen. Versuchen Sie es einmal bei Ihren eigenen Patienten.«
Jan zuckte mit den Schultern. »Werde ich vielleicht ausprobieren.«
Wieder kamen Mehras strahlende Zähne zum Vorschein, und in seinen Mundwinkeln bildeten sich zwei tiefe Grübchen. »Gut. Man sollte nichts unversucht lassen.«
Dann verschwand er im Aufzug.
Jan nahm den Weg durch das Treppenhaus. Er folgte
der Beschilderung zum Ausgang der Stadtklinik, die ihn durch einen Glasgang entlang des T-förmigen Gebäudes führte.
Als er an der neurologischen Intensivabteilung vorbeikam, blieb er überrascht stehen. Er sah noch einmal durch die Glastür, um sicherzugehen, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Es war tatsächlich Hubert Amstner. Er kam aus einem der Krankenzimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter sich, ehe er die Station auf der gegenüberliegenden Seite verließ.
Jan sah ihm verdutzt nach. Bei wem machte der menschenscheue Amstner einen Krankenbesuch? Neugierig betrat Jan die Station und ging zu der Tür, aus der Amstner gekommen war. Erstaunt las er den Namen auf dem Türschild: WAGNER, ALFRED.
Was hatte Amstner mit Alfred zu tun?
Jan folgte ihm durch den gegenüberliegenden Ausgang und hatte ihn im Eingangsbereich der Klinik eingeholt. Amstner stand am Kiosk und verstaute gerade zwei Flachmänner in seinen Manteltaschen, als er Jan sah.
»Ah, der junge Forstner«, sagte Amstner. »Ich dachte, du bist Seelenklempner?«
»Und ich dachte, Sie meiden die Öffentlichkeit.«
»Meistens tue ich das auch.«
»Können wir reden?«
»Sicher.« Amstner nickte gleichgültig. »Aber draußen. Hier drin ist mir zu viel los.«
Jan folgte ihm vor das Gebäude. Amstner ging zu dem Fahrradunterstand, der sich neben dem Eingang befand.
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