Kalte Stille - Kalte Stille
Die Plastikwände schirmten den eisigen Wind ein wenig ab. Dafür kam nun der Körpergeruch des Alten deutlicher zur Geltung.
»Auch einen?« Amstner hielt Jan eine kleine Flasche Weinbrand entgegen.
Jan schüttelte den Kopf. »Was haben Sie mit Alfred Wagner zu tun?«
»Dasselbe wie du, Junge«, sagte Amstner und leerte mit einem Schluck die Hälfte der kleinen Flasche. »Ich kenne ihn seit seiner Kindheit.« Er schraubte die Flasche zu, bevor er weitersprach. »Ist’ne Schande, dass die den armen Jungen nicht einfach sterben lassen. In dem Zustand ist das doch kein Leben mehr.« Er hob den Kopf und sah Jan aus geröteten Augen an. »Ist ein guter Junge, der Alfred. Er kann ja nichts dafür, dass er verrückt ist. Das hat er von seinem Vater. Der alte Hartmut hat gesponnen, so lange ich denken kann. Soll ein hundertfünfzigprozentiger Nazi gewesen sein, hat es geheißen. Dann, als der Krieg verloren war, haben ihn die Russen kassiert. Hartmut war jahrelang in irgendeinem Arbeitslager. Als er dann zurückkam, war er vollends durch den Wind. Hatte ständig Angst, dass die Russen kommen und ihn zurückholen würden. Ich seh ihn noch im Supermarkt stehen - damals gab es hier nur einen -, wie er vom Jüngsten Gericht gepredigt hat. Ständig war er im Irrenhaus, und der arme Alfred war ganz auf sich allein gestellt.«
»Und Sie haben sich um ihn gekümmert?«
Amstner zuckte mit den Schultern. »Hat ja sonst keiner getan. Als Hartmut sein gesamtes Geld für diese blödsinnigen Konserven verpulvert hatte, hat sich der ganze Ort darüber das Maul zerrissen. Ausgelacht hat man den alten Spinner. Aber an seinen Sohn hat keiner gedacht. Auf dem haben alle nur rumgehackt.« Er öffnete wieder die Flasche und trank sie leer. »Und dann, als Hartmut sich aufgeknüpft hatte, haben sie den Jungen
ins Heim geschickt. Das hat seiner Seele dann den Rest gegeben.«
»Hatten Sie später wieder Kontakt?«
Amstner nickte und schob die leere Flasche in seine Manteltasche. »Irgendwann stand er wieder vor meiner Tür. Völlig pleite, keine Bleibe, keine Arbeit. Hat mir mit den Hasen geholfen. Mit Tieren konnte er gut umgehen. Manchmal hat er für uns Kartoffeln vom Feld geklaut oder Tannenzapfen und Holz aus dem Wald geholt, damit wir heizen konnten. Der Wald war seine Heimat. Da hat er sich oft tagelang rumgetrieben. Manchmal wochenlang. Bis er dann irgendwann wieder vor meiner Tür stand. So ging das über all die Jahre. Tja, und jetzt …«
Amstner holte die zweite Flasche heraus, besah sie eine Weile und schob sie dann wieder in die Manteltasche.
»Alfred hat mir von Sven erzählt«, sagte Jan. »Er behauptete, Sven sei jetzt ein … Unterirdischer. Was kann er damit gemeint haben?«
Grinsend schüttelte Amstner den Kopf. »So gern ich den Jungen auch habe, aber er hat in seinem kurzen Leben eine Riesenmenge Unsinn verzapft. Mir hat er hinter die Hasenställe gekackt, nur weil er geglaubt hat, Hitler wohne in meinem Spülkasten. Und das war noch eine harmlose Sache. Das Geschwätz von einem Verrückten eben.«
»Er hat Ihnen gegenüber also nie die Unterirdischen erwähnt?«
Amstner stieß ein heißeres Lachen aus. Seine Atem stieg in einer dicken weißen Wolke vor ihm auf. »Und ob er das hat. Die Unterirdischen, die Außerirdischen, Pater Pio, die Madonna mit den Klauenhänden, die hat er alle
irgendwo gesehen oder gehört. Ganz ohne Grund war er ja nicht ständig bei euch in der Klapsmühle.«
Er wühlte einen Schlüsselbund aus seiner abgewetzten Hose und sperrte das dicke Schloss an seinem Fahrrad auf.
»Das ist das Erbe der Väter«, sagte er spöttisch und schob sein Fahrrad auf den Gehweg. »Die einen werden zum Seelenklempner, und die anderen landen in der Klapse.«
»Nicht alles, was ein psychisch Kranker sagt, muss wahnhaft sein«, widersprach ihm Jan. »Manchmal findet sich in den Wahnvorstellungen auch ein Quäntchen Wahrheit.«
»Wenn du meinst.« Schwerfällig stieg der Alte auf den Sattel. »Aber pass auf, dass du das richtige Quäntchen erwischst. Sonst kannst du dich bald selbst bei deinen Verrückten einsperren und den Schlüssel wegwerfen.«
Keuchend trat Hubert Amstner in die Pedale. Jan sah ihm nach, wie er mit wehendem Mantel in der Dunkelheit verschwand.
55
Die Nacht kam, und mit der Nacht kamen die Träume. Anfangs waren Carlas Träume noch wirr und zusammenhanglos, doch dann wurden sie immer klarer und deutlicher. Nach einer wilden Achterbahnfahrt, bei der sie mit gewaltiger Geschwindigkeit
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