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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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heimlich mit Süßigkeiten vollstopfte, keine engeren Beziehungen eingehen konnte und aus einem Elternhaus stammte, in dem beruflicher Erfolg, Ansehen und hohes Einkommen von größter Bedeutung waren. Die letzten zehn Minuten der Sitzung hatte die dicke Frau fast nur geweint.

    Rauh war mehrere Male sehr dicht an der Tür zu seinem Büro vorbeigekommen. Dort hatte er Papiertaschentücher und Tee für seine Patientin von der Kommode geholt. Jedes Mal, wenn sie ihn in nächster Nähe gehört hatte, war Carlas Herz fast stehengeblieben.
    Als Rauh schließlich seine Patientin verabschiedete und sich anbot, sie zurück auf die Station zu begleiten, fiel Carla ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Erleichtert stieß sie den Atem aus und wartete, bis sich die Tür nebenan geschlossen hatte. Die Stimmen auf dem Gang entfernten sich.
    Carla tastete sich durch den dunklen Therapieraum, stieß mit dem Fuß gegen ein Stuhlbein, fluchte leise und erreichte die Tür. Geschafft!
    Vorsichtig öffnete sie. Sie trat gerade auf den Gang hinaus, als Rauh ihr entgegenkam. Der Arzt blieb wie angewurzelt stehen.
    »Frau Weller, was haben Sie dort zu suchen?«
    »Oh … da … da sind Sie ja«, stammelte Carla. »Ich habe Sie bereits gesucht. Wegen eines Termins. Wie Sie vorgeschlagen hatten.«
    »Verkaufen Sie mich nicht für dumm.« Rauh rang sichtlich um Fassung. »Sie haben sich widerrechtlich Zutritt zu meinem Büro verschafft.«
    »Es war nicht abgesperrt.«
    An Rauhs Schläfen trat ein feines Adergeflecht hervor, und sein solariumgebräunter Teint wechselte ins Rötliche. »Das war auch nicht nötig, da hier bislang noch keine Presseleute rumgeschnüffelt haben.«
    »Und was werden Sie jetzt tun?«, fragte Carla und lächelte finster. »Eine Patientin, die sich die Pulsadern aufgeschlitzt hat, vor die Tür setzen? Ihr die Behandlung
verweigern? Würde bestimmt eine gute Schlagzeile abgeben.«
    Rauh kam auf sie zu, blieb knapp vor ihr stehen und sah ihr tief in die Augen. Im Gang war es totenstill. Nur ihr Atmen und das leise Neonsirren der Deckenbeleuchtung waren zu hören.
    »Sie brauchen wirklich Hilfe«, sagte Rauh mit bedrohlich leiser Stimme.
    »Was bedeutet R ?«, fragte Carla.
    »R?«
    »Das R , das Sie hinter Nathalies Namen vermerkt haben.«
    Carla glaubte Rauhs heißen Atem auf der Haut zu spüren. Seine zorngeweiteten Pupillen hatten das tiefe Blau der schmalen Iris fast verdrängt, doch Carla konnte dennoch die hellen Faserstrukturen darin erkennen, die aussahen wie elektrische Blitze in einer Plasmakugel.
    »Sie machen einen großen Fehler.«
    Wieder sprach er leise und gepresst, so als müsse er alle Selbstbeherrschung aufbringen, um Carla nicht anzuschreien. Dann wandte er sich von ihr ab, ging um sie herum zum Therapieraum und schlug die Tür hinter sich zu.

54
    Wie paralysiert stand Jan am Ende des Ganges der Intensivstation und starrte aus dem Fenster. Neben ihm brummte die Kühlung eines Getränkeautomaten, und etwas weiter entfernt war leise Musik zu hören, die das
Transistorradio im Stationszimmer von sich gab. Irgendein Klavierkonzert, wahrscheinlich Edvard Grieg. Draußen senkte sich der Abend auf die Klinik herab.
    Seit Beginn der Notoperation mussten Stunden vergangen sein. Vier, fünf Stunden. Jan hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er sah wieder die hölzerne Statue vor sich, die der Mann von der Spurensicherung in der blutverschmierten Tüte getragen hatte - den abgebrochenen Arm, der eine geschnitzte Laterne hochgehalten hatte.
    Wer tat so etwas?
    Wer schlug auf einen alten Mann ein, um ihn dann sterbend in seinem eigenen Blut liegenzulassen?
    Warum?
    »Herr Kollege?«
    Jan schrak zusammen. Benommen sah er sich um. Ein kleiner, dicklicher Mann mit südasiatischem Aussehen musterte ihn besorgt durch eine runde Brille. Er hatte die Hände in den Taschen seines Arztkittels vergraben und sah erschöpft aus.
    »Mein Name ist Sikandar Mehra. Ich habe Herrn Marenburg operiert.«
    »Wie geht es ihm?« Jan kam seine eigene Stimme fremd vor. Rissig, belegt und leise.
    »Wir mussten ihn ins künstliche Koma versetzen«, sagte Dr. Mehra. »Er hat eine schwere Schädelfraktur erlitten. Inwieweit das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, können wir noch nicht genau sagen. Wir werden einige neurologische Tests durchführen müssen. Aber damit will ich noch warten.«
    »Heißt das, er kommt durch?«
    Der Arzt schürzte die Lippen. »Das hängt davon ab, ob er diese Nacht übersteht. Herr Marenburg hat sehr viel

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