Kalte Stille - Kalte Stille
toten Freundin, die nun zu einem Geist der Vergangenheit geworden war. Carla schloss die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen.
Einen Moment verharrte sie reglos, dann ging sie in die Küche, goss sich den letzten Rest Rotwein ein und trank das Glas in einem Zug aus. Sie fühlte sich betrunken und, Herrgott ja, warum sollte sie sich nicht betrinken. Das war ihr gutes Recht. Sie hatte ihre beste Freundin verloren - nein, mehr noch, Nathalie war wie eine Schwester für sie gewesen.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie das Glas in ihrer Hand.
Im Wohnzimmer ließ sie sich auf die Couch fallen, griff zum Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste, wie schon unzählige Male zuvor, nur um wieder das endlose Freizeichen zu hören.
Warum ging er nicht wenigstens an sein beschissenes Telefon? Sie brauchte jemanden zum Reden. Er war der Einzige, der verstand, wie sehr ihr Nathalie fehlte. Warum hatte er nicht wenigstens eine Mailbox?
Sie nahm die Tasche mit ihrem Notebook, befreite sie von der Banderole der neuseeländischen Fluglinie und holte das Gerät heraus. Ungeduldig wartete sie, bis der Computer hochgefahren war und sich das E-Mail-Programm öffnen ließ.
Sie schrieb ihm nur eine Zeile: BITTE MELDE DICH! Dann klickte sie auf Senden/Empfangen , und ihre kurze Botschaft nahm den Weg durchs Datennetz. Gleichzeitig erschienen zweiunddreißig neue Nachrichten in ihrem Posteingang. Carla hatte seit zwei Tagen keine E-Mails mehr abgerufen, und wie es schien, handelte es sich nur um schwachsinnige Spam-Werbung. Sie wollte gerade das Programm beenden und ihr Notebook zuklappen, als ihr unter den Absenderadressen ein Name ins Auge stach.
Carla spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Mit geweiteten Augen starrte sie auf den Monitor. Als sie sich schließlich überwinden konnte, die Nachricht aufzurufen, zitterten ihre Hände. Ihr war eiskalt.
11
Jan kam sich wie eine gespaltene Persönlichkeit vor. Ja, verdammt, seine Situation war doch wohl ziemlich schizophren: Einerseits war er der zwölfjährige Junge, der sich nachts mit dem Diktiergerät seines Vaters aus dem Haus geschlichen hatte. Er war der Junge, der sich ein dickes Buch zum Thema übersinnliche Phänomene zu Weihnachten gewünscht hatte, der am Heiligen Abend mit seiner Familie »O du fröhliche« gesungen hatte, und er war der Junge, der den Tod seiner um sechs Jahre älteren, geistig verwirrten Nachbarin hatte miterleben müssen. All das war er - und doch auch wieder nicht.
Zumindest nicht mehr. Denn ein anderer Teil von ihm
war fünfunddreißig Jahre alt, war ein erwachsener Mann, geschieden, von Beruf Psychiater, der sich gerade in einer Trance befand.
Was Jan jetzt und hier sah, war längst vergangen. Das rief ihm Dr. Rauh in Erinnerung, der wie ein Gespenst neben ihm im nächtlichen Park stand. Rauh gehörte nicht in diesen Park. Er war Bestandteil einer anderen, dreiundzwanzig Jahre entfernten Welt, und das war seinem ganzen Erscheinungsbild anzusehen. Die Dunkelheit konnte ihm nichts anhaben. Weder beschienen ihn die Wegleuchten, noch warf er einen Schatten auf dem Schnee. Rauh war klar und deutlich erkennbar, als stünde er in einem hell erleuchteten Zimmer. Und das tat er ja auch. Nur hier, im Fahlenberger Stadtpark des Jahres 1985, sah er deswegen aus wie ein Trugbild. Wie eine Art Hologramm.
Für Jan war es verdammt schwer, die bildgewordene Erinnerung, die sich so täuschend echt anfühlte, von der Realität zu unterscheiden. Natürlich erkannte sein Erwachsenenbewusstsein, dass nicht Rauh, sondern der Park das Trugbild war. Alles, was er jetzt zu erleben glaubte, war »nur eine Erinnerung« , hörte er Rauh sagen, und obwohl der Arzt in Jans gegenwärtiger Welt wie ein Geist erschien, war seine Stimme dennoch realer als all die anderen Geräusche hier.
Rauhs Worte bewirkten, dass Jans Furcht vor dem Schatten nachließ. Eigentlich wusste er doch längst, zu wem dieser Schatten gehörte, der von den Parkleuchten immer länger und länger gezogen wurde und wie ein schwarzes Ungeheuer auf ihn zukroch.
In Jans Erinnerung hatte er damals jedoch furchtbare Angst gehabt. Aus seinem Mund quoll der Atem wie der Dampf einer alten Lok, die einen Berg erklomm. Als der
Schatten ihn schließlich erreichte, hätte Jan sich fast in die Hosen gemacht. Doch jetzt erkannte er ihn - Sven. Sein Bruder, der Zwerg, in Steppjacke und Skimütze.
Die riesigen Pranken des Schattenmonsters waren nichts anderes
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