Kalte Stille - Kalte Stille
als die verzerrten Abbilder von Svens gestrickten Fäustlingen gewesen.
»Sag mal, bist du völlig verrückt?«, rief Jan aus, teils erleichtert, vor allem aber überrascht und stinksauer. »Was hast du hier zu suchen?«
»Ich wollte sehen, was du machst«, entgegnete Sven.
»Das geht dich überhaupt nichts an.« Jan funkelte seinen kleinen Bruder an, der jetzt trotzig die dick gepolsterten Arme vor der Brust verschränkte. Er überlegte fieberhaft, was er mit dem kleinen Störenfried anstellen sollte.
Ihn allein zurückschicken brachte er nicht über sich. Er würde womöglich noch Aufsehen erregen oder zu Hause die Eltern aufwecken. Mit ihm gemeinsam umkehren und sein Vorhaben abblasen kam aber auch nicht infrage. Ihm blieb keine andere Wahl - er musste Sven in seinen Plan einweihen. Und wenn er ehrlich war, war es ihm gar nicht mal so unrecht, nicht mehr allein zu sein.
»Also gut«, sagte Jan. »Ich bin auf dem Weg zum Weiher. Dorthin, wo Alexandra ertrunken ist.«
Svens Augen wurden groß. »Warum denn das?«
»Ich will etwas ausprobieren«, sagte Jan und winkte seinem kleinen Bruder, ihm zu folgen. »Komm mit, es wird Zeit.«
Sven folgte ihm auf dem Fuß. »Ausprobieren? Was denn? Jetzt sag doch schon!«
Während sie durch den nächtlichen Park gingen und das Echo ihrer knirschenden Schritte von den kahlen
Bäumen zurückgeworfen wurde, erklärte Jan, was er in seinem Buch über Friedrich Jürgenson gelesen hatte und was ihn seit Tagen nicht losließ:
Durch einen Zufall hatte der Opernsänger und Maler im Sommer des Jahres 1959 eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Jürgenson hatte die Radioübertragung einer Opernaufführung mit seinem Tonbandgerät aufgezeichnet. Als er das Band später abspielte, hörte er Stimmen im Hintergrund der Musikaufnahme.
Zuerst hielt Jürgenson diese Stimmen für eine Störung in der Übertragung - vielleicht durch einen anderen Sender hervorgerufen, der die Frequenz überlagerte -, doch bei genauerem Hinhören bekam er eine Gänsehaut. Eine dieser Stimmen kannte er, das hätte er vor jedem Gericht dieser Welt geschworen. Sie gehörte einem befreundeten Sänger, der Jürgenson auf dem Band mehrmals beim Vornamen ansprach. Das Unheimliche daran war: Dieser Freund war bereits seit mehreren Jahren tot.
Jürgenson wollte dem auf den Grund gehen. Er nahm ein neues, noch in Zellophan verpacktes Tonband und legte es in sein Gerät ein. Dann drückte er die Aufnahmetaste, ging aus dem Raum und ließ es bis zum Ende durchlaufen. Was danach geschah, beschäftigte Wissenschaftler bis zum heutigen Tag.
Auf dem Band, auf dem sich eigentlich nichts als die Stille in Jürgensons Arbeitszimmer hätte befinden dürfen, waren erneut Stimmen zu hören. Manche dieser Stimmen kannte Jürgenson, andere waren ihm fremd, wiederum andere stellten sich ihm als prominente Personen vor. Doch all diese Stimmen hatten eines gemeinsam: Die Personen, zu denen sie gehörten, waren zum Zeitpunkt der Aufnahme tot.
In den Büchern, die Jürgenson im Lauf seiner Nachforschungen
schrieb, äußerte er die Vermutung, mit seinen Aufnahmen die Pforte zu einer anderen Welt aufgetan zu haben - einer Welt, in der es den Toten möglich war, mit den Lebenden zu kommunizieren. Und als sei dies noch nicht fantastisch genug, stellte Jürgenson noch eine weitere These auf: Er behauptete, er sei keinesfalls ein Auserwählter, an den sich die Verstorbenen bevorzugt wandten. Nein, laut Jürgenson sei jeder, der ein Tonbandgerät, einen Kassettenrekorder oder sonst eine Möglichkeit zur Magnettonaufzeichnung besitze, in der Lage, solche Aufnahmen zu machen und mit der Welt der Toten in Verbindung zu treten …
Jan und Sven waren bei der Parkbank am Weiher angelangt. Sie blieben stehen. Sven hatte seinem großen Bruder mit offenem Mund zugehört. Es dauerte eine Weile, bis er begriff.
»Du willst so eine Aufnahme machen?«
»Jürgenson sagt, man müsse den Toten nur seine Fragen stellen und dann das Tonband laufen lassen«, erklärte Jan, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.
Er holte das Diktiergerät aus der Hosentasche. Sven schaute ihn ungläubig an. Dann sah er auf das Diktiergerät in Jans behandschuhter Hand und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf.
»Das gibt mindestens zwei Wochen Hausarrest.«
»Selbst wenn«, gab Jan trotzig zurück, »das ist die Sache wert. Ich muss einfach wissen, warum Alexandra in den Park gerannt ist, vor wem sie davongelaufen ist - oder vor was.«
Sven schluckte. Ihm
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