Kalte Stille - Kalte Stille
viel länger dauern - damals, als er noch mit seinem Vater hier gewesen war. Und mit Sven.
Für Jan war diese Tankstelle an der Fahlenberger Ortseinfahrt so etwas wie die steingewordene Verkörperung
dessen, was man als den Wandel der Zeit bezeichnete.
Bis in die späten fünfziger Jahre hatte sich in dem dreistöckigen Gebäude das Stadtkrankenhaus befunden. Sowohl Bernhard Forstner als auch seine Frau Angelika waren dort zur Welt gekommen. Als dann ein gut zwanzigmal so großer Krankenhauskomplex in der Nachbarschaft der Waldklinik errichtet wurde, ging das alte Gebäude in Privatbesitz über und wurde zu einem Wohnhaus umgebaut. Etwa zehn Jahre darauf kam die Tankstelle hinzu und wenig später eröffnete gleich nebenan ein Spielwarenladen.
Jan sah die freundliche Besitzerin noch vor sich. Da verstand es sich von selbst, dass Jan und Sven ihren Vater liebend gern zum Tanken begleiteten. Vor allem an Samstagen, wenn Bernhard Forstner anschließend noch durch die Waschstraße fuhr und den Jungs mehr Zeit blieb, all die tollen Dinge im Schaufenster zu bestaunen.
Jedes Jahr im November wurde die Auslage zu einer Modelleisenbahnlandschaft mit Tunneln, Bergen, Brücken und Seen, und spätestens dann stand auch Bernhard Forstner bei seinen Söhnen vor der Scheibe.
Hätte man Jan nach den schönsten Erinnerungen an seinen Vater gefragt, hätte er die alljährliche Adventszeit genannt - die Zeit, in der Bernhard Forstner jeden freien Moment mit Sven und Jan verbrachte. Dann bastelten sie gemeinsam in den Abendstunden und an den dienstfreien Wochenenden des Vaters an der Landschaft für die Modelleisenbahn, die jedes Jahr neu gestaltet wurde.
Jan erinnerte sich noch an seinen letzten Einkauf in diesem Laden: ein Güterwaggon für sechs Mark. Das war drei Tage vor Svens Verschwinden gewesen. Drei Tage vor der Nacht, in der Bernhard Forstner mit unbekanntem
Ziel davonfuhr und wenig später in den Trümmern seines VW Passat gestorben war.
Jetzt, nach all den Jahren, kamen ihm diese Erinnerungen wie die eines Fremden vor.
Jan sah zu der leeren Schaufensterscheibe hinüber, und ein Gefühl der Wehmut beschlich ihn. Damals, im Zuge der Ermittlungen im Fall seines Bruders, war unter anderem auch der Tankstellenbesitzer in Verdacht geraten. Der Verdacht wurde schnell fallengelassen, aber bald darauf gab er die Tankstelle auf. Etwa zur gleichen Zeit machte auch der Spielwarenladen zu.
Wie lange mochte der Laden wohl schon leer stehen? Den Überresten der Plakate am Eingang nach zu schließen, hatte sich zuletzt ein Reisebüro darin befunden. Eisiger Ostwind zerrte an den Papierfetzen und trug Lärm vom Nebengebäude herüber. Dort, wo einst die benachbarte Autowerkstatt gewesen war, stand nun ein Flachbau, in dem sich eine Kneipe mit dem vielsagenden Namen »Zapfsäule« befand.
Das Klicken des Füllstutzens ließ Jan zusammenfahren. In der Einsamkeit des Winterabends hatte es sich für einen Sekundenbruchteil angehört wie die Aufnahmetaste eines Diktiergeräts. Sofort schüttelte Jan diesen Gedanken ab und rammte den Zapfhahn zurück in die Säule - heftiger als nötig.
Während er den Tankdeckel schloss, sah Jan, wie ein alter Mann mit seinem Fahrrad neben dem Eingang des Tankstellenladens hielt. Das schüttere graue Haar des Mannes wehte wie Spinnweben um seinen Schädel. Der verschlissene Armeeparka und die fleckige Cordhose schienen aus der Altkleidersammlung zu stammen, ebenso wie er wahrscheinlich auch das Fahrrad vom Sperrmüll gerettet hatte.
Unsicher stieg der Alte ab, lehnte sein Rad gegen einen Verkaufsständer für Motoröl und schloss es mit einer Kette daran fest. Dann schwankte er auf den Eingang des Ladens zu. Kurz vor der Tür wandte er sich noch einmal mit prüfendem Blick nach seinem Rad um, als dürfe er das gute Stück keine Sekunde aus den Augen lassen. Dann stapfte er ins Innere.
Als Jan den grell erleuchteten Laden betrat, empfing ihn ein beißender Gestank - eine Mischung aus Moder, kaltem Rauch und billigem Fusel. Der Alte, den Jan als die Geruchsquelle ausmachte, schien soeben bei dem jungen pickelgesichtigen Mann an der Kasse seine Bestellung aufgegeben zu haben, denn nun grinste das Pickelgesicht und sagte etwas lauter als nötig: »Brauchst wohl neuen Stoff, was?«
Der Alte nahm zwei große Flaschen Korn entgegen, die er in einer Plastiktüte verstaute. Den kleinen Flachmann ließ er vor sich auf der Theke stehen. Dann zog er einen speckigen Geldbeutel aus der Jackentasche. Seine Hände
Weitere Kostenlose Bücher