Kalte Stille - Kalte Stille
Richtung.
»Sie sind wohl der barmherzige Samariter, was?«
»Nein, ich bin Arzt.«
Das Pickelgesicht nickte zu den Zigaretten in Jans Hand. »Und ich dachte, die leben gesund und qualmen nicht. Na ja, was geht’s mich an.« Damit wandte er sich ab.
Jan warf die Zigaretten auf die Rückbank. Dann versuchte er, Ralf zu wecken, aber ohne Erfolg. Er befühlte Ralfs Jackentaschen und fand einen Schlüsselbund und einen Geldbeutel.
Wie es schien, hatte Ralf seine gesamte Barschaft in der »Zapfsäule« gelassen. Im kleinen Sichtfenster des Geldbeutels steckte ein Foto. Ein Automatenbild, das Ralf mit seiner Freundin zeigte. Es sah ganz nach der spontanen Idee eines frisch verliebten Pärchens aus, das
mal eben in einen Passbildautomaten am Bahnhof oder im Supermarkt kletterte, um den Augenblick mit einem Schnappschuss zu verewigen. Die beiden küssten sich, so dass man von dem langhaarigen Mädchen nur den Hinterkopf sah. Ralf hatte die Augen weit aufgerissen und wirkte deutlich munterer als jetzt auf dem Beifahrersitz.
Jan zog den Personalausweis hinter dem Bild hervor und fand Ralfs Adresse. Bachstraße. Die Gegend kannte er. Ein Jugendfreund, mit dem er einst Krebse aus der Fahle gefischt und in Marmeladengläsern nach Hause getragen hatte, hatte dort gewohnt. Auf dem Weg dorthin drehte Jan die Heizung des Wagens bis zum Anschlag auf. Sie kam jedoch nicht gegen den eisigen Fahrtwind an, der durchs offene Fenster pfiff. Ralf merkte davon nichts. Der Blondschopf schnarchte mit weit offenem Mund. Nur hin und wieder zuckte er wie bei einem bösen Traum.
Der Fahrstuhl war defekt, aber sie schafften es mehr oder weniger gemeinsam, die vier Stockwerke zu Ralfs Wohnung zu erklimmen. Als Jan endlich wieder im Wagen saß und sich auf den Heimweg machte, war ihm jedenfalls nicht mehr kalt.
Er nahm die kürzeste Strecke über die Schnellstraße. Als er sich der Fußgängerbrücke näherte, befiel ihn ein beklemmendes Gefühl. Er spürte einen unangenehmen Stich in der Brust, als er jetzt auch noch eine Gestalt am Geländer erkannte. Jemand stand dort oben und sah auf die Straße herab.
Beinahe wäre Jan auf die Bremse gestiegen, doch kurz bevor er die Brücke erreichte, wandte sich die Gestalt ab und verschmolz mit der Dunkelheit.
Wieder musste Jan an das zerschmetterte Gesicht der
jungen Frau denken und an den unmenschlichen Laut, der sich ihrer Kehle entrungen hatte.
Gäoh!
13
»Ich gehe jede Wette ein, dass du heute noch nichts Vernünftiges gegessen hast.«
Marenburg stand im Türrahmen des Wohnzimmers und bedachte Jan mit einem prüfenden Blick.
Jan hängte seine Jacke an die Garderobe und sah seinen Gastgeber an. »Du hörst dich schon an wie meine Exfrau.«
Marenburg grinste. »Siehst ganz schön fertig aus. Man könnte meinen, du arbeitest auf dem Bau und nicht in einer Klinik.«
Jan fühlte sich in der Tat, als hätte er stundenlang Ziegelsteine geschleppt. Die Sache mit Ralf Steffens hatte einem aufreibenden Tag noch die Krone aufgesetzt.
Marenburg wies mit dem Kopf zur Küche. »Was hältst du von Heringssalat mit Roter Bete? Altes Rezept von meinem Großvater. Ich habe eine extragroße Portion gemacht.«
Jan widerstand der Versuchung, das Gesicht zu verziehen. Es war wohl nicht der richtige Moment, seinem Freund zu sagen, dass er sich nichts aus Fisch machte. Marenburg genoss es ganz offensichtlich, einen Mitbewohner zu haben, um den er sich kümmern konnte, und Jan hatte einen Bärenhunger. Er hatte tatsächlich noch nichts gegessen, und wie um dies zu betonen, gab sein
Magen nun ein lautes Knurren von sich. Die beiden Männer mussten lachen.
»Na, das deute ich mal als ein Ja«, meinte Marenburg.
Er verschwand in der Küche, und Jan ging sich umziehen. Als er wenig später die Treppe zur Küche hinunterstieg, empfing ihn der würzige Duft von Bratkartoffeln. Der Tisch war gedeckt, und Marenburg hatte sogar ein paar Flaschen Schlossquellbier kalt gestellt.
Die beiden machten sich über die Hausmannskost her, und Jan stellte fest, dass er seine Meinung über Fischgerichte revidieren musste. Der Salat schmeckte ausgezeichnet, auch wenn die sonderbar rote Sahnesoße für einen Moment ungute Assoziationen bei ihm weckte. Und morgen würde er für seine Patientengespräche dringend Pfefferminzpastillen brauchen. Marenburg hatte an Zwiebeln nicht gespart.
Heißhungrig schaufelte Jan Bratkartoffeln in sich hinein, während Marenburg Anekdoten über seinen Großvater zum Besten gab, der mit sechzehn
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