Kalte Stille - Kalte Stille
von zu Hause ausgebüxt war, um zur See zu fahren, und den es irgendwann nach Fahlenberg verschlagen hatte. Seither lebten die Marenburgs am Ort und führten im Gegensatz zum abenteuerlustigen Großvater ein recht bodenständiges Leben. Rudolfs Vater, Siegfried Marenburg, war zeit seines Lebens Arbeiter bei den Fahlenberger Elektrowerken gewesen, und Rudolf hatte bis zu seiner Pensionierung im Einwohnermeldeamt der Stadtverwaltung gearbeitet.
Marenburg verstand sich aufs Erzählen, und Jan stellte einmal mehr fest, dass der alte Mann Gott und die Welt in Fahlenberg kannte. Das brachte ihn auf eine Idee. Er schob seinen Teller von sich, lehnte sich zurück und sah Marenburg an.
»Sag mal, du kennst doch so gut wie jeden hier in Fahlenberg, oder?«
»Bestimmt nicht jeden«, sagte Marenburg und wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab, »aber unter den Alteingesessenen kenne ich mich aus. Warum fragst du?«
»Sagt dir ein gewisser Hubbi etwas?«
Marenburg legte die Serviette beiseite und wischte mit einem Brotstück die letzten Soßenreste von seinem Teller.
»Hubbi?«
»So wird er jedenfalls genannt. Scheint schwer alkoholkrank zu sein und macht einen ziemlich abgerissenen Eindruck. Sein Alter ist schwierig zu schätzen. Sieht vermutlich älter aus, als er tatsächlich ist.«
»Ach so«, Marenburg nickte und schob den Teller von sich. »Du meinst bestimmt Hubert Amstner. Wie kommst du denn auf den?«
»Ich bin ihm heute Abend an der Tankstelle begegnet«, sagte Jan, und noch während er sprach, ging ihm ein Licht auf. »Amstner? Der Tankstellenbesitzer?«
Er sah den Mann vor sich, wie er damals seinen Vater bedient hatte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, bei der heruntergekommenen Gestalt, die er heute gesehen hatte, könnte es sich um Hubert Amstner handeln.
»Genau der«, sagte Marenburg und nippte an seinem Bier. »Du bist ihm an der Tankstelle begegnet?«
»Ja.«
» Seiner ehemaligen Tankstelle?«
Jan nickte und Marenburg seufzte. »Er kann’s einfach nicht lassen. Ist eine verdammt traurige Geschichte. Erst die Sache mit deinem Bruder, dann mit seiner Frau …«
»Seiner Frau?«
»Die den Spielzeugladen hatte.«
Jan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Das war Amstners Frau?«
»Rosalia Amstner.« Marenburg nickte. »Du wirst sie wahrscheinlich nur als Rosa gekannt haben, so wie alle. Ich glaube, mit einem Frau Amstner hätte sich die gute Rosa gar nicht angesprochen gefühlt.«
»Wie gut kennst du die beiden?«
»Sie haben im selben Jahr geheiratet wie Flora und ich.« Er nickte in Richtung des Hochzeitsfotos, das auf dem Küchenregal stand. »Und ihnen erging es ähnlich wie uns: Auch Rosa konnte keine Kinder bekommen, genau wie meine Flora. Als es bei Flora dann doch noch klappte, war es für uns wie ein Wunder. Wer hätte denn geahnt, dass sie die Geburt nicht überstehen würde.« Traurig zuckte er mit den Schultern. »Rosa schien mit der Kinderlosigkeit gut zurechtzukommen. Aber für den armen Hubert war das ein ziemlicher Schlag. Er war ganz vernarrt in Kinder, weißt du. Der Spielzeugladen war seine Idee. Tja, und dann wurde ihm seine Kinderliebe zum Verhängnis.«
»Erzähl, was ist passiert?«
Marenburg trank sein Bier aus, stand auf und holte zwei neue Flaschen aus dem Kühlschrank.
»Es muss im Sommer 1983 gewesen sein, als Gabriele Jost mit ihrem Sohn Christian in den Ort kam. Ich weiß zwar nicht mehr, woher sie ursprünglich stammten, aber an die Namen erinnere ich mich noch genau.« Marenburg tippte sich an die Schläfe und lächelte schwach. »Obwohl ich jetzt schon seit Jahren in Rente bin, kommt es mir manchmal immer noch so vor, als hätte ich das gesamte Einwohnerarchiv da oben abgespeichert.«
»Tja, Rudi, das Langzeitgedächtnis wird im Alter eben besser.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen«, brummte Marenburg und reichte Jan sein Bier.
»Was war mit den beiden?«
»Christian war zehn, wirkte aber schon sehr vernünftig für sein Alter. Ein lieber Junge. Ein wenig schüchtern und zurückhaltend, aber immer freundlich. Seine Eltern hatten sich einige Jahre zuvor scheiden lassen, und ich denke, Christian hat in Hubert so etwas wie einen Ersatzvater gesehen. Hubert hat das gefallen. Er hatte hinter dem Haus einen Hasenstall, und das war natürlich toll für einen Zehnjährigen. So freundeten sich die beiden an.« Mit einer routinierten Bewegung ließ Marenburg den Bügelverschluss seiner Bierflasche aufschnappen und nahm einen großen
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