Kalte Stille - Kalte Stille
Schluck. »Es muss im selben Sommer gewesen sein. Vielleicht kennst du noch Karl Lehmann, den Postboten? Einer vom alten Schlag, der noch Zeit hatte für ein Schwätzchen hier und da. Solange er die Post austrug, konnte man sich den Lokalteil in der Zeitung sparen.«
Jan erinnerte sich tatsächlich an Karl Lehmann. Allerdings hatte er ihn nicht gerade positiv in Erinnerung. Lehmann hatte Rufus nicht ausstehen können, dabei hatte er einfach Rufus’ Freude über einen vermeintlichen Spielgefährten grundsätzlich fehlinterpretiert.
»Eines Vormittags«, fuhr Marenburg fort, »sah Karl, wie Hubert und Christian am Weiher saßen. Es waren noch keine Ferien, und eigentlich hätte der Junge in der Schule sein müssen. Das machte Karl stutzig. Also blieb er stehen und beobachtete die beiden. Und dann …« Marenburg machte eine kurze Pause, als falle es ihm schwer, darüber zu sprechen. »Nun, Karl behauptete, Hubert habe sich an dem Jungen zu schaffen gemacht, und er, Karl, habe gerade noch das Schlimmste verhindern
können. Er ist dazwischengegangen und hat Hubert eine tüchtige Tracht Prügel verpasst. Er war ja nun wirklich kein Schwergewicht, aber Hubert sah hinterher aus, als sei er unter einen Lastwagen geraten.
Danach war die Hölle los, wie du dir denken kannst. Hubert hat immer wieder seine Unschuld beteuert. Geglaubt hat ihm keiner. Auf einmal erschien seine Kinderliebe in einem ganz anderen Licht. Der Junge nahm ihn zwar in Schutz, aber man war sich nicht sicher, inwieweit Hubert ihn schon beeinflusst hatte.«
Das wäre kein Einzelfall gewesen, dachte Jan und trank sein Bier leer. Häufig ging pädophilen Beziehungen eine längere Freundschaftsphase voraus, und es entstand eine Art gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, ehe es zu sexuellen Handlungen kam. Wurde der Täter dann überführt, nahmen ihn seine Opfer oft in Schutz, da sie den Freund - den sie oftmals für ihren einzigen wahren Freund hielten - nicht verlieren wollten. Für Jan waren es stets die schmerzhaftesten Momente seiner Berufslaufbahn gewesen, wenn sich ein Kind selbst beschuldigte, den Täter verführt zu haben.
»Was wurde aus dem Jungen?«
»Er und seine Mutter zogen kurz darauf aus Fahlenberg weg. Nach Augsburg, wenn ich mich recht entsinne. Für Hubert war das der Anfang vom Ende. Das Gerede hörte nicht auf, und bald schon sah es an seiner Tankstelle aus, als sei die schlimmste Ölkrise ausgebrochen. Hubert musste das Haus und sein Geschäft verkaufen. Er zog mit Rosa in das kleine Bahnwärterhäuschen, das ihm sein Vater vererbt hatte. Das Häuschen drüben am Waldweg. Kennst du bestimmt.«
»In diese Ruine? Die war doch schon damals eine Bruchbude.«
Marenburg zuckte die Schultern. »Was blieb ihnen anderes übrig? Er bekam ja nicht einmal mehr Arbeit am Ort.«
»Warum ist er dann in Fahlenberg geblieben? Er hätte irgendwo hinziehen können, wo man ihn nicht kannte.«
»Ich glaube, er ist geblieben, weil man es ihm sonst als Schuldgeständnis ausgelegt hätte«, meinte Marenburg und zupfte am Etikett seiner Flasche. »Natürlich hatte man ihm schon den Stempel aufgedrückt, aber vielleicht hat Hubert gehofft, dass mit der Zeit Gras über die Sache wächst.«
»Wieso bist du dir so sicher, dass Lehmann nicht vielleicht doch Recht gehabt hat?«
Marenburg stieß ein freudloses Lachen aus. »Zum einen, weil der gute Karl - Gott hab ihn selig - ein verdammtes Klatschmaul gewesen ist. Bei dem durfte man nicht alles für bare Münze nehmen. Und zum anderen …«
Marenburg sah zu seinem Hochzeitsfoto. Er zögerte kurz, dann sprach er weiter: »Also, zum anderen ist Hubert während seiner Jugend ein ziemlicher Schürzenjäger gewesen. Vor dem war keine sicher, die nicht bei drei auf dem Baum war. Sah ja auch noch verdammt gut aus damals. Da sind nicht viele auf den Baum geklettert, wenn du verstehst, was ich meine…«
Jan verstand sehr wohl, und nun war ihm auch klar, weshalb Marenburg gezögert hatte.
»Tja, aber dann kam Rosa, und von einem Tag zum nächsten wurde aus dem alten Schwerenöter ein braver Ehemann. So kann’s manchmal gehen.« Er sah Jan eindringlich an. »Er hat seine Frau geliebt, Jan, auch das hatten wir gemeinsam. Und wäre all dieser Mist nicht passiert, wären die beiden heute noch zusammen.«
»Sie hat ihn verlassen?«
Marenburg schüttelte den Kopf.
»Sie hat ihn nicht einfach verlassen.« Er trank einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Es war ihm deutlich
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