Kalte Stille - Kalte Stille
anzusehen, wie nahe ihm diese Geschichte ging. »Nach der Sache mit deinem Bruder muss es ihr zu viel geworden sein. Rosa hat immer zu ihrem Mann gehalten, auch noch als sie in dieser alten Bruchbude hausen mussten und von den Ersparnissen lebten. Aber das Gerede hörte nie ganz auf. Und dann verschwand Sven. Sofort verdächtigte man ihren Hubert. Zwar glaubte ihr die Polizei, dass Hubert die ganze Nacht zu Hause gewesen war, aber die Leute im Ort hatten sich ihre eigene Meinung gebildet. Das brachte das Fass dann zum Überlaufen.«
»Sie hat sich umgebracht?«
Marenburg nickte. »Ist in den Wald gegangen und hat sich aufgehängt. Das hat Hubert dann endgültig das Genick gebrochen. Danach hat er jeglichen Kontakt zum Ort beendet. Inzwischen ist das alles längst vergessen. Viele der Alten von damals sind gestorben, und für die Jüngeren ist Hubert Amstner nur noch Hubbi der Säufer, der in der alten Bruchbude haust und von der Hand in den Mund lebt.«
Eine bleierne Schwere machte sich in der kleinen Küche breit und drückte auf Jans Schultern. Svens Verschwinden hatte so viel Unheil ausgelöst - nicht nur in seiner Familie. Jan fragte sich, ob der Täter von einst dies alles mitbekommen hatte und was dabei in ihm vorgegangen war.
»Hast du denn noch Kontakt zu Amstner?«
Marenburg schüttelte den Kopf. »Nein. Der redet mit keinem mehr. Außer vielleicht noch mit dem Verkäufer im Schnapsladen. Kann man ihm nicht verdenken.«
Obwohl Jan todmüde war, wälzte er sich in dieser Nacht noch lange im Bett hin und her. Das Bild der sterbenden Frau, die Therapiestunde bei Rauh und Hubert Amstners Geschichte geisterten durch seinen Kopf und ließen ihn lange nicht zur Ruhe kommen. Als er schließlich doch einschlief, hatte er einen Traum, der eigentlich kein Traum, sondern eine Erinnerung war. Ein längst vergessener Dämon suchte ihn heim.
14
Es war Samstag, der 12. Januar 1985, und Jan kauerte hinter dem Geländer am oberen Treppenabsatz. Er hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, und seine Augen brannten vom Weinen. In den letzten Stunden hatte er viel geweint - so viel, dass nun keine Tränen mehr kamen. Er war erschöpft, aufgewühlt und verängstigt.
Aus dem Wohnzimmer im Erdgeschoss drang die schrille Stimme seiner Mutter zu ihm hoch. Angelika Forstner war noch immer wie hysterisch. Obwohl es schon mehrere Stunden zurücklag, dass sie Jan geohrfeigt und wie eine Verrückte auf ihn eingeprügelt hatte, glaubte er noch immer, ihre Schläge zu spüren.
Solange die Polizei im Haus gewesen war, hatte sich seine Mutter noch einigermaßen zusammennehmen können, aber kaum waren die Beamten fort, war sie ausgerastet. Sie verlor jede Selbstbeherrschung. Seither tobte sie, und sosehr sich Bernhard Forstner auch bemühte, seine Frau zu besänftigen und ihr Mut zuzusprechen, seine Versuche blieben erfolglos.
»Wie kann man nur auf so eine hirnverbrannte Idee kommen? Schleppt einen Sechsjährigen nachts in den Park und lässt ihn dort allein stehen! Meinen armen kleinen Schatz!«
Jedes dieser Worte schmerzte Jan wie weitere Schläge. Als er dem Polizisten erzählt hatte, was geschehen war, hatte ihm dieser mit stoischer Miene zugehört und sich Notizen gemacht. Er hatte Jans Idee weder kommentiert noch mit Blicken oder sonstigen Gesten bewertet, und Jan war ihm dafür dankbar gewesen. Am Ende hatte er Jan sogar Mut zugesprochen.
»Wir werden deinen Bruder suchen«, hatte der Polizist gesagt und war dann mit seinen Kollegen gegangen, um sein Versprechen zu erfüllen.
Danach war der verzweifelte Zorn seiner Eltern über Jan hereingebrochen. Zwar hatte Bernhard Forstner kein Wort zu seinem ältesten Sohn gesagt, aber seinem Blick war deutlich anzusehen gewesen, dass es besser für Jan war, wenn er auf sein Zimmer gehen würde. Und gerade als Jan das Wohnzimmer hatte verlassen wollen, war seine Mutter auf ihn losgegangen.
Jans Vater war zu ihnen gelaufen, hatte seine schreiende Frau gepackt und die Tobende durch den Raum zur Couch gezerrt. Jan hatte sich vom Boden hochgerappelt. In seinem Mundwinkel hatte er Blut geschmeckt. Er hatte den eindringlichen Blick seines Vaters erwidert und dabei etwas entdeckt, was er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte: Bernhard Forstner hatte Tränen in den Augen. Dieser Anblick hatte Jan fast noch mehr erschreckt als die Tatsache, dass Sven verschwunden war und seine Mutter den Verstand verloren zu haben schien.
Bis zu diesem Tag hatte Jan geglaubt, sein Vater
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