Kalte Stille - Kalte Stille
sei
allen Situationen gewachsen, wie schlimm sie auch sein mochten. Er hatte doch stets für alles eine Erklärung, fand immer eine Lösung, wenn es irgendwo Probleme gab. Doch nun stürzte Jans Glaube an den allmächtigen Vater in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
»Bitte, Jan. Geh nach oben. Deine Mutter steht unter Schock. Ich werde später nach dir sehen, ja?«
Also war Jan in sein Zimmer gegangen, doch dort hatte er es nicht lange ausgehalten. Auch Jan fürchtete, dass Sven etwas sehr Schlimmes zugestoßen war. Etwas, von dem man sonst nur aus der Zeitung oder freitagabends in Aktenzeichen XY erfuhr.
Und für seine Eltern war er an allem schuld. Sicher, es war eine blöde Idee gewesen, die Stimme eines Geistes auf Tonband aufnehmen zu wollen. Aber er hatte es doch nicht böse gemeint. Vor allen Dingen war Sven ihm doch nachgelaufen . Es war Svens Idee gewesen, seinem großen Bruder in den Park zu folgen. Aber das hatte niemand hören wollen. Jan war der Ältere, also war er für das verantwortlich, was geschehen war - und vielleicht noch geschehen würde.
»Wir werden deinen Bruder suchen«, hatte der Polizist gesagt, und Jan klammerte sich an die Worte wie an einen Rettungsring. Sie mussten ihn einfach finden, schließlich war ein riesiges Aufgebot an Suchmannschaften unterwegs. Ganz Fahlenberg war inzwischen auf den Beinen und durchkämmte die Umgebung. Das hatte sein Vater doch vorhin auch seiner Mutter versichert.
Den Wunsch ganz zu Ende zu denken, wagte Jan aber nicht, sondern hielt ihn tief in seinem Herzen verborgen. Denn den Wunsch ganz zu denken bedeutete auch, daran zu denken, was wäre, wenn er sich nicht erfüllte. Und das wollte und konnte Jan nicht. Nicht jetzt.
Wenn es wirklich einen lieben Gott gab, der in die Herzen der Menschen sehen konnte, dann würde er den Wunsch dort sicherlich entdecken und ihn auch erfüllen. Dort wünschte sich Jan, dass die Männer seinen Bruder nicht nur finden, sondern lebend finden würden. Allein die Vorstellung, Sven könnte seinetwegen zu Tode gekommen sein, raubte ihm fast den Verstand.
Allmählich wurde es stiller im Erdgeschoss. Wahrscheinlich wirkten die Tabletten, die Bernhard Forstner vor einer Weile für seine Frau geholt hatte.
Auch Rufus traute sich nicht, die Treppe zu seinem Herrchen hinunterzugehen. Er lugte vorsichtig aus Svens Zimmer, trottete dann, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt, zu Jan und ließ sich leise winselnd neben ihm nieder. Jan kraulte sein weiches Fell und fühlte sich ein klein wenig besser. Die Nähe des Hundes war tröstlich, auch wenn sie ihm die große Angst nicht nehmen konnte.
Sven war irgendwo da draußen, und es gab einen Grund, warum er nicht nach Hause gekommen war. Sicherlich hätte er längst vor der Tür gestanden, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Sven hatte gefroren, er war müde gewesen, und Jans Geisterjagd hatte ihn nach einer Weile nur noch gelangweilt. Wieso sollte er also nicht heimgekommen sein, außer etwas oder jemand hatte ihn daran gehindert?
Sie werden die Umgebung nach ihm absuchen, dachte Jan. Sicherlich werden sie auch das Weiherufer abgehen .
Er dachte an Alexandra, und wieder brannten ihm die Augen. Was, wenn Sven zum Weiher gegangen war, auf das brüchige Eis …
In diesem Moment schrillte das Telefon auf dem Gang.
Beim zweiten Klingeln war Bernhard Forstner am Apparat. Er riss den Hörer von der Gabel, und sein Gesicht war kreidebleich.
Bitte, lieber Gott, lass sie Sven gefunden haben, betete Jan. Lass sie ihn lebend gefunden haben. Bitte, bitte, bitte!
»Nicht jetzt«, hörte er seinen Vater sagen. »Mein Jüngster ist verschwunden, und die Polizei sucht ihn.«
Dann sah Jan durch die Stäbe des Geländers, wie sein Vater zusammenfuhr.
»Was?«
Die Hand seines Vaters, die den Hörer hielt, begann zu zittern. Mit der anderen fuhr er sich durch die Haare, als sei sein Kopf plötzlich voller Läuse.
»Wo?«, rief Bernhard Forstner in den Hörer. Dann: »Moment noch!«
Er knallte den Hörer auf die Gabel zurück, rannte zur Garderobe und riss seinen Mantel vom Haken.
Ohne sich noch einmal seiner Frau im Wohnzimmer zuzuwenden, lief Forstner zur Haustür und stürmte hinaus ins Freie.
Als die Tür hinter seinem Vater ins Schloss fiel, wurde Jan von einem Gedanken gepackt, der wie ein Schrei in seinem Kopf hallte. Dies war kein Traum, dies war eine Erinnerung, und sie schien lebendig geworden zu sein.
Auf einmal verstand er, dass er keine zwölf Jahre mehr war. Er war
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