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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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und das nur wegen eurer Scheißmedikamente!«
    »Okay«, sagte Jan. Noch immer hatte er die Handflächen erhoben. »Das hast du uns jetzt eindrucksvoll demonstriert. Aber wenn du …«
    »Ich kann ja nicht einmal mehr klar denken!«
    »Hör mir zu, Alfred!«, schrie Jan zurück. »Hör mir genau zu! Willst du mir jetzt bitte zuhören?«

    Alfred nickte.
    »Gut«, sagte Jan und verfiel wieder in einen normalem Gesprächston. »Du hast gesagt, dass du aus der Klinik rauswillst. Das kann ich gut verstehen. Niemand ist gern hier. Aber wir können dich nur dann gehen lassen, wenn du uns überzeugt hast, dass du ein vernünftiger Mensch bist. Verstehst du das?«
    »Natürlich«, brummte Alfred, und für einen Moment glaubte Jan, den kleinen Jungen im Gesicht des Mannes wiederzuerkennen.
    »Was deine Medikamente betrifft«, fuhr Jan fort, »so werden wir die Dosierung umgehend prüfen. Manchmal genügt eine kleine Veränderung, um die Nebenwirkungen aufzuheben. Das gilt auch für die Impotenz. Das hat man dir doch sicherlich gesagt, als man dich über deine Medikamente aufgeklärt hat, oder?«
    Hinter Alfred Wagners Stirn arbeitete es heftig, das war ihm deutlich anzusehen. Er hatte den Blick gesenkt und rollte dabei mit den Augen hin und her, als könne er seine Gedanken von den Schultern seiner Geisel ablesen. Noch immer hielt er die Brust der Ärztin, die ihrerseits noch immer die Hand an Alfred Wagners Hose hatte und in dieser Haltung erstarrt zu sein schien.
    »Komm schon, Alfred«, sagte Jan mit besänftigender Stimme. »Lass sie gehen, und wir reden von Mann zu Mann.«
    Er machte einen weiteren Schritt auf die beiden zu. Nun blieben noch etwa drei Meter Anstand zwischen ihnen.
    »Reden«, murmelte Alfred wie zu sich selbst. Dann ruckte sein Kopf hoch, und Jan sah, dass der Blick des Spinners zurückgekehrt war.
    Noch bevor Jan reagieren konnte, stieß Alfred seine
Geisel von sich. Im nächsten Moment hielt er sich selbst die Spritze an den Hals.
    Es ging so schnell, dass Andrea Kunert keine Zeit blieb, sich aus ihrer Angststarre zu lösen. Sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und landete auf allen vieren.
    »Mach, dass du wegkommst!«, kreischte Alfred. »Du wirst mich sowieso nicht verstehen! Mich hat noch nie jemand verstanden!«
    Die Ärztin sprang auf. Ohne nach rechts und nach links zu blicken, hastete sie an Jan vorbei zur Tür, prallte gegen das Panzerglas wie ein verirrter Vogel gegen eine Fensterscheibe, riss die Tür auf und stürmte aus dem Stationszimmer.
    »Scheiß Fotze!«, schrie Alfred ihr nach. »Ich hab doch niemand was getan! Ich hab die Schlüpfer doch nur geklaut, um daran zu riechen!«
    Nun begriff Jan, wer der Dieb gewesen war, von dem ihm die Schwester auf Station 12 erzählt hatte. »Du warst das also.«
    Alfred nickte, wobei er sich die Spritze wie einen Faustkeil an den Hals hielt.
    »Ich hab denen nichts tun wollen. Echt nicht. Ich wollte mir nur vorstellen, wie das ist mit einer echten Frau. Einen Irren wie mich will doch sowieso keine ficken. Du hast es bestimmt schon mit vielen gemacht, was, Jan?«
    Jan wiegte den Kopf.
    »Ey, komm, Jan. Sag schon.«
    »Na ja, nicht mit vielen.«
    »Aber wenigstens hast du es schon einmal gemacht?«
    »Ja, habe ich.«
    Wieder senkte Alfred den Blick. »Du wirst mich nicht hier rauslassen, stimmt’s?«

    »Das kann ich nicht«, entgegnete Jan. »Zumindest noch nicht. Aber ich werde mein Bestes tun, dir zu helfen.«
    »Helfen? Du willst mir helfen ? Das sagt ihr doch immer. Als ob ich Hilfe nötig hätte!«
    »Ja, ich denke, das hast du, Alfred.«
    »Blödsinn! Ihr haltet mich alle für verrückt, aber das stimmt nicht. Ihr seid nur zu gewöhnlich, um zu begreifen, dass ich ein Auserwählter bin. Du hast gar keine Ahnung, was für eine Gabe ich habe.«
    »Dann erklär mir deine Gabe.«
    In Alfred Wagners Gesicht trat ein nahezu ehrfürchtiger Ausdruck. Die Spitze der Nadel schwebte nur wenige Millimeter neben seinem Hals. Jan musste ihn ablenken und konnte nur hoffen, dass Alfred irgendwann den Arm mit der Spritze sinken ließ.
    »Weißt du«, sagte Alfred und blickte seltsam entrückt ins Leere, »keiner hier hat mir jemals richtig zugehört, wenn ich davon erzählt habe. Von ihnen. Dabei sind sie überall. Sie reden zu mir und wollen, dass ich euch ihre Botschaften überbringe.«
    »Und wer spricht zu dir?«
    »Die Toten, Jan, es sind die Toten. Sie sind unter uns. Es gibt nämlich gar keinen Himmel, weißt du. Deswegen reden sie ja auch zu mir.

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