Kalte Stille - Kalte Stille
können. Und wenn sie tatsächlich zu viel davon genommen hätte, dann wäre es wohl aufgefallen. Die Nachwirkungen wären wie ein schlimmer Kater gewesen …«
Er setzte sich neben Carla aufs Bett und rieb sich die Schläfen.
»Akzeptier es einfach«, sagte Carla und legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. »Ich weiß, dass die Wahrheit wehtut, aber es ist nun eben einmal so.«
»Ja, sie tut weh.« Ralf seufzte ganz erbärmlich. Dann versetzte er dem Bettvorleger einen Stoß mit den Hacken, so dass er wie eine pelzige Flunder über den Laminatboden rutschte. »Sie tut sogar verdammt weh!«
Überrascht sah Carla auf die schwarze Pappschachtel, die mit dem Vorleger unter dem Bett hervorgerutscht war.
»He, was ist das?«
»Was?«
»Na, das da!« Carla stand auf und kniete sich vor den Karton, auf dem das goldfarbene Logo einer italienischen Firma prangte.
»Ein Schuhkarton. Na und?«
»So kann wirklich nur ein Mann fragen.« Carla verdrehte die Augen. »Was siehst du als Erstes, wenn du in diese Wohnung kommst?«
»Wie? Na, den Garderobenspiegel.«
Seufzend schüttelte Carla den Kopf. »Und was steht darunter, groß und unübersehbar?«
»Das Schuhkästchen.«
»Eben drum. Frauen bewahren ihre Schuhe nicht in Kartons auf. Sie wollen sie im Regal sehen können. Erst recht bei so einer teuren Marke. Deshalb hat deine Freundin auch nicht Schuh-, sondern Schatzkästchen dazu gesagt.«
Neugierig nahm Carla den Deckel von der Schachtel. Der Schuhkarton war voller Briefe und Postkarten.
Die meisten der Ansichtskarten waren Carla vertraut. Sie hatte sie an Nathalie geschickt, wenn sie für einen neuen Artikel auf Reisen gewesen war oder Tagungen besucht hatte. Ein paar der älteren Karten stammten noch aus Carlas Zeit mit Jörg. Mit ihm war sie viel verreist, und hätte Jörg nicht so sehr auf traute Zweisamkeit bestanden, hätte sie Nathalie gerne mit in den Urlaub genommen. Ein paar Tage in der Sonne, ein schönes Hotel am Strand, leckere Cocktails und exotisches Nachtleben, all das hätte Nathalie gutgetan, dachte Carla. Nicht nur ihre dämlichen Postkarten von Palmenstränden und surfenden Beachboys.
Sie hätte Nathalie mitnehmen und Jörg schon viel früher zum Teufel schicken sollen. Vielleicht hätte Nathalie
dann eine nette Bekanntschaft gemacht, und vielleicht hätte ihr diese Bekanntschaft die größte ihrer Ängste genommen.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen, also brachte es auch nichts, sich deswegen weiter Vorwürfe zu machen.
Denk an die älteste aller Journalistenregeln und halt dich an die Fakten, sagte sie sich. Sie war hier, um nach dem Mann zu suchen, der Nathalie geschwängert hatte. Dem Mann, der ihren Tod zu verantworten hatte - ob nun vorsätzlich oder nicht.
Sie nahm einen Stapel Briefe aus der Schachtel und sah ihn durch. »Hey, die meisten sind ja von dir.«
Ralf räusperte sich. »Ja, sie mochte Gedichte so gern.«
»Wie romantisch.«
»Hör auf damit.« Mit einer hastigen Bewegung nahm er ihr die Briefe aus der Hand. »Die gehen dich nichts an.«
»Ich lese die Briefe ja nicht. Ich schau nur, von wem sie sind.«
Carla nahm einen weiteren Umschlag aus dem Karton, in dem sich mehrere Postkarten befanden. Sie hatten alle dasselbe Motiv. Eine gelbe Rose, die auf einem gerafften Samtuntergrund voller grüner Blätter lag. Ein furchtbar kitschiges Motiv, fand Carla. Manche der Karten wirkten älter und verblichener als die anderen.
Ralf sah die Karten skeptisch an. »Das ist eigentlich nicht ihr Stil.«
»Nein, sieht eher nach einem Fehlkauf aus.«
»Warum bewahrt sie sie dann auf? So etwas bekommt man doch in jedem Supermarkt nachgeworfen.«
Erschrocken fuhr Carla zusammen. »Mist!«
»Was ist?«
»Der Rosenkavalier!«
»Wer?«
»Der Rosenkavalier«, wiederholte sie und schlug sich an die Stirn. »So hat Nathalie ihn genannt. Hatte ich total vergessen.«
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Nathalie wusste es auch nicht. Irgendein Spinner. Er hat ihr jedes Jahr eine von diesen Karten in den Briefkasten gesteckt. Immer Anfang Januar, wenn ich mich richtig erinnere. Ohne Kommentar.«
Ralf sah sie an, als habe sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Und das erzählst du mir erst jetzt?«
»Ich hatte den völlig verdrängt. Nathalie und ich haben ihn keine Sekunde ernst genommen.«
Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Nathalie und sie im Treppenhaus. Nathalie, die den Postkasten öffnet und sich über die vielen Prospekte
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