Kalte Stille - Kalte Stille
ärgert, die man trotz Hinweisschild bei ihr eingeworfen hat. Die Postkarte, die aus dem Prospektstapel rutscht und auf den Boden fällt. Nathalie, die sich danach bückt und den Kopf schüttelt.
Schon wieder, hört sie Nathalie sagen.
Ein heimlicher Verehrer? Komm, gib’s zu!
Nathalie, die verschmitzt lächelt. Keine Ahnung. Er schreibt ja nie etwas drauf. Das geht schon so, seit ich hier wohne. Immer diese gelbe Rose. Fünf Karten hab ich schon.
Und du weißt nicht, von wem?
Ich weiß nur, dass mein Rosenkavalier auf Schnapszahlen stehen muss.
Schnapszahlen?
Ja. Jedes Jahr am 11. 1. bekomme ich eine neue Karte.
Nachdenklich wiegte Carla die Postkarten in der Hand. Nun waren es sechs.
»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Nathalies Rosenkavalier unser Mann ist«, sagte sie. »Solche Typen sind meistens total schüchtern und verklemmt. Mir hat mal einer jeden Tag eine Tulpe unter den Scheibenwischer geklemmt, und als ich ihn dann zufällig dabei überrascht habe, ist er weggelaufen, und ich hab nie wieder was von ihm gesehen oder gehört.« Nachdenklich zupfte sie sich am Ohrläppchen. »Andererseits …«
Ralf nahm ihr die Karten aus der Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Dann sah er Carla an.
»Was?«
»Na ja, ich frage mich, wieso er ihr keine richtigen Rosen schenkt. Wieso nur ein Bild? Und wieso ausgerechnet gelbe Rosen?«
38
Die Mittagssonne kämpfte kraftlos und blass gegen die grauen Wolkenschleier an, die den Himmel über dem Fahlenberger Friedhof verdeckten. Obwohl Jan einen dicken Pullover unter seinem schwarzen Mantel trug, fror er erbärmlich. In der Kirche war er sich wie in einer Gefriertruhe vorgekommen. Ein grauhaariger, dunkelhäutiger Pfarrer, der vermutlich aus Indien stammte und mit nahezu unverständlichem Akzent sprach, hatte sich sehr viel Zeit mit der Predigt gelassen.
Als sich die kleine Trauergemeinde dann endlich auf den Weg zu Nathalies Begräbnisstätte begeben hatte, war Jan nicht der Einzige gewesen, der die Arme um den Leib geschlungen hatte, um die Eiseskälte zu vertreiben.
Rudolf Marenburg ging neben Jan. Die Kälte hatte das Gesicht des Alten gerötet, und von seiner Nase hing ein zitternder Tropfen, den Marenburg jedoch nicht zu bemerken schien. Jan hatte sich gefragt, weshalb Rudi zu dieser Beerdigung gekommen war - immerhin hatte er Nathalie Köppler doch gar nicht gekannt -, aber dann war ihm Rudis Reaktion auf den Zeitungsartikel wieder in den Sinn gekommen. Vielleicht, so mutmaßte Jan, versuchte Rudi auf diese Weise, Nathalies Ähnlichkeit mit Alexandra zu verarbeiten.
Oder es lag ganz einfach daran, dass sie auf demselben Amt gearbeitet hatte wie einst Marenburg selbst.
Den ganzen Weg über den Friedhof sprach Rudi kein einziges Wort, sondern starrte nur auf den Sarg, der auf einem rollbaren Gestell über den Kiesweg vom Leichenhaus zu Nathalies letzter Ruhestätte geschoben wurde.
Jan hingegen musste immer wieder zu der Wohnsiedlung hinübersehen, die hinter dem Friedhof aufragte. Er sah die erloschenen Neonleuchten des Love Palace. Dass das Eros-Center ausgerechnet hier errichtet worden war, erschien ihm wie ein grotesker Witz. Dennoch war es für ihn eine willkommene Ablenkung, über den Sinn oder Unsinn eines Bordells in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof nachzudenken. Jan hasste Beerdigungen. Hasste das Ritual, dem etwas Unwirkliches anhaftete.
Dieses Unwirkliche war ihm zum ersten Mal bei den Begräbnissen seiner Eltern bewusst geworden, und bei jeder weiteren Beisetzung hatte sich der Eindruck verstärkt. Und auch jetzt, als er mit Marenburg ein wenig abseits neben einem Grabstein stand und zusah, wie Carla und Ralf von Nathalie Abschied nahmen, überkam Jan dieses Gefühl.
Vor allem war es der Sarg, der Jan abschreckte. Ganz gleich, wie sehr man ihn auch mit Beschlägen, Gravuren, Blumen und Kränzen schmückte, ein Sarg war im Prinzip nur eine primitive Holzkiste. Es spielte keine Rolle, wie lebhaft und rege dieser Mensch vorher noch im Leben gestanden haben mochte, das letzte Bild, das man von ihm in Erinnerung behielt, war das eben jener Holzkiste. Man sieht, wie sie auf ein kleines Gerüst gehievt wird, kann sich vorstellen, wie der leblose Kopf dieser Person auf dem Seidenkissen hin und her kippt, und dann wird die Kiste rumpelnd in ein Erdloch hinabgelassen. Das ist das letzte Bild, das von uns bleibt.
Im Fall von Nathalie Köppler war dies vielleicht sogar besser, dachte Jan, denn das einzige Bild, das er von
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