Kalte Stille - Kalte Stille
abgelenkt gewesen waren, musste er fortgelaufen sein. Jan blickte sich um. Auch Hubert Amstner schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
In diesem Moment kreischten Bremsen. Augenblicklich rissen die Trauergäste die Köpfe herum und starrten über die niedrige Friedhofsmauer zur Schnellstraße. Sie sahen den Sattelschlepper, der in voller Fahrt zu bremsen versuchte. Dabei senkte sich das gefederte Führerhaus wie der Kopf eines Stiers, der zum Angriff übergeht. Mehrere nachfolgende und entgegenkommende Fahrzeuge hupten, während der Anhänger des Lastwagens mit einer schwänzelnden Bewegung zur Seite rutschte.
Ralf stand mitten auf der Straße. Er hielt die Arme ausgebreitet wie eine Christusstatue. Trotz der Entfernung konnte Jan erkennen, dass er die Augen geschlossen hatte. Seine Lippen bewegten sich rasch, und weiße Atemwölkchen stiegen auf.
Jan gab ein fassungsloses Röcheln von sich. Hinter ihm schrie eine Frau, und im selben Moment erfolgte der Aufprall, kurz und hart. Es hörte sich an, als ob man mit der flachen Hand auf eine Blechtonne schlug. Wie eine große Puppe, die man in die Luft geworfen hatte, wurde Ralfs Körper in den Gegenverkehr geschleudert. Zwei Pkws, die die Situation zu spät erkannten, überrollten ihn und fuhren ineinander. Ein dritter rutschte an den beiden anderen vorbei und krachte in den quer stehenden Anhänger des Lastzugs. Ein Kleinbus konnte ebenfalls
nicht rechtzeitig bremsen. Er durchbrach die Leitplanke und kam mit eingedrückter Motorhaube auf dem asphaltierten Radweg zum Stehen. Binnen weniger Sekunden herrschte Chaos auf der Schnellstraße.
Mit schreckgeweiteten Augen ging Carla auf die Friedhofsmauer zu. Kurz davor blieb sie stehen und starrte auf die Stelle, an der Ralfs Körper unter einem der Autos hervorragte. Sie schrie Ralfs Namen. Ein Kreischen, das in der eisigen Luft zu klirren schien.
39
Während seines Studiums hatte einer von Jans Professoren Jean-Jacques Rousseau zitiert. Das Leben sei ein Kampfplatz, so habe der Philosoph einmal behauptet. Ein Kampfplatz, den wir bei unserer Geburt betreten und mit unserem Tod wieder verlassen.
Jetzt, wo Jan neben der Parkbank stand und auf die schneebedeckte Eisfläche des Fahlenberger Weihers hinausschaute, kam ihm dieses Zitat wieder in den Sinn.
Die Vorlesung, in der dieses Zitat gefallen war, hatte das Thema »Suizid« behandelt - ein Thema, mit dem die jungen Mediziner im Lauf ihres Berufslebens häufiger konfrontiert werden würden, als ihnen lieb war, hatte der Professor hinzugefügt. Denn nicht alle Patienten hätten den Mut, die Kraft oder den Willen, den Kampf bis zum Ende durchzustehen.
»Es steht uns nicht an, denjenigen zu verurteilen, der aus freien Stücken vorzeitig das Schlachtfeld verlässt, auch wenn die großen Religionen etwas anderes lehren«,
hatte der Professor gesagt. »Doch es gehört sehr wohl zu unseren Aufgaben, die Menschen davon zu überzeugen, dass es etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Denn wir haben nur diesen einen Kampfplatz. Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es jedenfalls keinen überzeugenden Beweis für eine zweite Chance.«
Ralf hatte keinen Ausweg mehr gesehen. An Nathalies Grab musste er endgültig begriffen haben, dass es nichts gab, das sie wieder zu ihm zurückbringen würde. Also hatte er den Kampf aufgegeben.
Drei Menschen, die sich seit Jans Rückkehr nach Fahlenberg das Leben genommen hatten. Vor seinen Augen. Es war, als zöge er das Unheil an.
Und er hatte gehofft, er könnte hier endlich ein normales Leben führen! Einmal mehr wurde ihm klar, dass das eine Illusion war.
Das Leben ist ein Kampfplatz, und wir können ihn nicht nach unseren Wünschen einrichten. Unser einziger Gestaltungsspielraum liegt in der Haltung, die wir in unserem Kampf einnehmen.
Rauh hatte Jans Haltung als Obsession bezeichnet, und sicherlich hatte er damit Recht. Jan sei ein Gefangener, hatte die Patientin mit dem Feuermal gesagt, und auch das stimmte. Doch was, zum Teufel, sollte er dagegen tun?
Jan ging auf die Tanne zu, hinter der er vor vielen Jahren gepinkelt hatte. Hätte er es nicht getan, wäre sein Bruder vielleicht nicht für immer verschwunden.
Er trat gegen den Stamm. Einmal. Dann noch einmal. Und noch einmal.
Schnee fiel von den Ästen auf ihn herab, doch er bemerkte es kaum. Mit jedem Tritt, den er dem Baum versetzte, löste sich ein kleiner Teil seiner wütenden Anspannung
und fand schließlich den Weg nach draußen in Form von unartikulierten
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