Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
herbekommen sollte? Aber es ist einfach schön, sich das vorzustellen!
Einen Traum liebe ich besonders, es ist mein »Paradiestraum«. Da gibt es Kinder, die nicht arbeiten müssen, die ein geregeltes Leben haben und in einem richtigen Bett schlafen. Die auch anständig zu essen bekommen mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Oder noch besser: Nudeln! Nudeln mit Tomatensoße! Die morgens Honig aufs Brot kriegen oder Marmelade. Die eine richtige Familie haben mit Vater, Mutter und Geschwistern. Vor allem aber: Kinder, die zur Schule gehen!
Mein Gott, ich weiß ja kaum noch, was eine Schule ist! Was hätte ich nicht in der ganzen Zeit schon alles lernen können! Immerhin kann ich inzwischen ganz gut Polnisch, allerdings bin ich dabei, schon wieder einiges zu verlernen, weil man hier so wenig miteinander redet. Aber alles andere: Wovon habe ich denn schon Ahnung? Was habe ich denn groß gelernt? Ich kann nur davon träumen, dass ich das alles eines Tages nachhole.
Und ich träume von Kindern, die sich morgens waschen! Ja, zugegeben: Waschen war nicht gerade das, was ich zu Hause besonders geschätzt habe. Aber es gehört zu einem normalen Leben einfach dazu! Einmal wieder richtige Seife benutzen, dass es schäumt! Oder baden, richtig in einer Wanne mit warmem Wasser, und dann untergetaucht bis zum Hals! Ach, wäre das schön …
Es ist heiß und ich schwitze. Die Kühe ziehen über ihre Weide und grasen friedlich. Nicht zu befürchten, dass sie mir einen Streich spielen. Ich gehe hinüber zum Bach, streife meine Sachen ab und steige hinein. Herrlich! Ich plantsche und spritze, werfe mich hinein und tauche. Spucke und pruste, wenn ich wieder hochkomme. Dann versuche ich zu schwimmen: fünf Züge schon, letzte Woche waren es erst drei!
Ich setze mich am Ufer in die Sonne und streiche mit den Händen über meine Haut. Feine schwarze Röllchen rubbeln sich ab, Haut mit Dreck! Es macht irgendwie Spaß, so mit den Fingern darüber zu fahren und immer neue Röllchen abzurubbeln. Sauber machen geht also auch ohne Seife! An meinen Füßen haben sich dicke Hornhäute gebildet, fast wie angewachsene Schuhsohlen!
Spielerisch scharre ich mit den Fingern im Vorjahreslaub der Erlen am Bach, finde alte Schneckenhäuser, ein paar Erlenzapfen und einen Tausendfüßler, der sich rasch aus dem Staube macht. Und auf einmal sehe ich sie: kleine rote Spinnen! Tief beuge ich mich zum Boden herab, um sie ganz genau zu betrachten. Barfuß gehen, fällt mir dabei ein, und dass ich jetzt sowieso immer barfuß gehe und auf die kleinen Spinnen nicht zu warten brauche. Und der Maulbeerbaum, unter dem ich immer gesessen habe. All die Erinnerungen an jene so fern scheinende Zeit überfallen mich, alle damit verbundenen Empfindungen sind auf einmal gegenwärtig. Aber merkwürdigerweise fühle ich kaum Sehnsucht. Das ist Vergangenheit, unendlich fern und unerreichbar, wie auf einem anderen Stern. Aber wie schön, dass ich einmal dort war!
Ob rote Spinnen Glück bringen?
Den Kopf auf den verschränkten Armen, liege ich rücklings im Gras und schaue in das Blau des Himmels. Wolken in allen Formen. Wenn man lange genug hinschaut, sieht man sie ihre Form verändern, vom Pudel zum Stoffbär zum Seehund. Und Schwalben jagen da oben: Fliegen können! Auf und davon fliegen und ein Nest bauen, wo es einem gefällt. Oder sich auf eine der Wolken setzen …
Meine Kühe sind ein Stück weitergezogen und ich stehe auf. Es ist schön, am Rain so durch das hohe Gras zu streifen und die Hand durch die Halme gleiten zu lassen. Margeriten stehen hier und Glockenblumen und ganz kleine Stiefmütterchen, die mindestens so schön sind wie die großen, gezüchteten.
Es leuchtet etwas aus dem hohen Gras. Ich hebe es auf: ein Knäuel aus bunten Garnen mit vielen, nicht sehr langen Stücken ganz verschiedener Fäden zum Stopfen bunter Sachen. Wie kommt das hierher? Wieso hat jemand das gerade hier verloren? Oder hat ein Vogel das Knäuel irgendwo stibitzt? Und es extra für mich hier fallen lassen?
Ich setze mich damit hin und fange an, mit bloßen Händen zu häkeln. Die Fäden sind fest und ich kann Schlaufe für Schlaufe ein Strickwerk in herrlichen Farben daraus machen. Zwar sind die Schlaufen grob, aber ich male mir aus, dass es ein Kleid wird oder eine Decke für Mama. – Natürlich weiß ich, dass das unmöglich ist, doch ich träume mich gern in eine Märchenwelt hinein, die mich schützt und birgt. – Wie groß bist du eigentlich?, frage ich mich. Egal! Am
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