Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
ihr in Stuttgart bei meiner anderen Patentante und ich erinnere mich noch gut an eine Begebenheit: Die waren riesig nett zu mir, und zu Weihnachten schenkten sie mir eine wunderschöne Puppe, mit Hut und Kleidern und allem. Und ich habe dagesessen und einen ganzen Tag lang geheult. Nur geheult! Konnte gar nicht mehr aufhören.«
Nach einer Weile fährt sie fort: »Jetzt waren wir in Deutschland, doch da gab es ein großes Problem: Wir konnten gar nicht alle zusammenleben. Meine Mutter hatte ja, weil wir illegal über die Zonengrenze gegangen waren, im Westen keine Zuzugsgenehmigung und die brauchte man wegen der Wohnungsnot. Deutschland war ja zu einem großen Teil noch zerstört! Also klapperte sie die zuständigen Ämter ab. Aber wenn unsere Mutter dann irgendwann damit herausrückte, dass sie auch noch sechs Kinder hatte, bekam sie bestenfalls den Rat, sich doch bitte schön wieder dorthin zu scheren, wo sie hergekommen sei! – Unsere Mutter war in Deutschland zuerst kaum weniger verzweifelt als in Polen.«
»Habt ihr dieses Problem irgendwie lösen können?«
»Nein, wir wurden alle verteilt. Die beiden kleineren Brüder waren ohnehin noch in einem Waisenhaus, die mussten erst einmal da bleiben. Ich selbst kam zu Verwandten nach Ulm – und fand mich in keiner Weise zurecht! Ich, die ich nur Landleben kannte, die ich lange Zeit unter primitivsten Bedingungen gehaust hatte, saß auf einmal in einem Arzthaushalt an einer gedeckten Tafel mit weißem Tischtuch und blitzeblanken Tellern!
Und dann die Schule: Ich konnte ja kein Deutsch mehr! Jedenfalls nicht sprechen. Und ich hatte kaum eine Ahnung, was Rechnen war. Ich saß da und verstand nicht, worum es ging. Und in der Ulmer Familie war ich auch außen vor, ging vielleicht auch von mir aus auf Distanz. Einmal war ich krank und lag auf dem Sofa, da habe ich dann gehört, wie die Kinder über mich tuschelten: ›Die will ja bloß nicht in die Schule …‹ – Es war schrecklich: Alles rundum war normal, bloß Lena war nicht normal! Ich bin richtig verstummt. Habe nur noch das Nötigste geredet und mich ganz in mich verkrochen.«
»Aber so konnte es doch nicht bleiben …«
»Unsere Mutter hatte eine Stellung in einem Kinderheim im Allgäu gefunden und da bin ich in den Ferien hingefahren. Sie hat dann dafür gesorgt, dass ich auf einem Hof ganz in der Nähe des Heims aufgenommen wurde. Da hatte ich es wirklich genauso gut wie bei Bożena. Endlich war ich wieder in einer gewohnten Umgebung!« Sie lacht: »Und bei meinen geliebten Kühen...!«
»Aber die Familie blieb getrennt?«
»Nicht mehr lange. Unser Vater kam bald aus der Gefangenschaft. – Es ist wirklich nicht zu glauben, aber die ganze Familie hatte überlebt – wenn man von unserem Schwesterchen absieht, das in der Internierung zur Welt gekommen und gestorben ist. Ich weiß nicht, ob viele Familien mit ähnlichem Schicksal solch ein Glück gehabt haben. Jedenfalls fanden wir dort im Allgäu bald eine Wohnung für uns alle und damit begann sozusagen wieder ein normales Leben.«
Wir schweigen eine Weile. Dann kommt eine Frage, die unausweichlich ist: »Die deutsche Schuld: Kommt ihr darin vor?«
Sie zögert. »Ich bin da sehr unsicher. Irgendwie ja und irgendwie nein. Schuldig im engeren Sinne sind meine Eltern gewiss nicht geworden. Wir hatten zu den dort verbliebenen Polen – und nicht zuletzt das war später unsere Rettung! – ein gutes Verhältnis. Zu besonderen Anlässen, etwa einer Geburt oder einer Taufe, sind meine Eltern immer mit Geschenken hingegangen. Das Wort ›Polacken‹ war in unserer Familie niemals zu hören, geschweige denn der unselige Begriff ›Untermensch‹. Trotzdem fühlte vor allem unsere Mutter sich manchmal als Eindringling, und sie fragte sich, wer wohl vorher auf dem Hof gewesen war.«
»Das wusstet ihr nicht?«
»Nein, aber es muss für jeden offensichtlich gewesen sein, dass die besitzende Schicht vertrieben und nur Kleinbauern und Handwerker da geblieben waren. Alle großen Höfe standen leer, ›Umsiedlung‹, das war der offizielle Begriff. Wie sehr meine Eltern geahnt haben, was genau das bedeutete, das kann ich heute nur schwer abschätzen.«
»Warum sind deine Eltern überhaupt nach Polen gegangen?«
»Weil mein Vater im Aufbau der Landwirtschaftsschule für die volksdeutschen Neusiedler eine interessante Aufgabe sah. Natürlich kann man darin auch so was wie nationale Überheblichkeit sehen, denn was hatten wir, was hatten die Deutschen in Polen zu
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