Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
kaum anders zu als sonst, nur um eine Spur heftiger, was mich schlagartig auf den Heuboden flüchten ließ, wo ich dann zwar dem Brüllen des Bauern, nicht aber seinen Händen ausgeliefert war.
Die Gefahr macht mich wachsam, lässt mich auf Kleinigkeiten achten, in denen eine Warnung verborgen sein kann. Mein Feind darf keine Chance haben, an mich heranzukommen, und deswegen muss ich immer um Sekunden früher einen anderen Weg einschlagen, eine neue Arbeit aufnehmen können oder was auch immer. Die Wachsamkeit gibt mir einen winzigen Vorsprung, und der kann entscheidend sein, egal, ob gegenüber den Jungen oder gegenüber dem Säufer.
Ich bin jederzeit hellwach und achte auf Zeichen. Nie fühle ich mich richtig sicher, außer ich weiß genau, dass niemand in der Nähe ist. Jeden Morgen, wenn ich die Kühe austreibe, versuche ich, die Weiden am Bach mit meinem Blick zu durchdringen, ob nicht die Jungen sich darin verbergen, und ich beobachte jeden entfernten Busch, ob nicht dahinter sich etwas bewegt. Zwar lassen sie mich jetzt in Ruhe, aber trotzdem klopft mir jedes Mal das Herz bis zum Halse, wenn ich auch nur einen von ihnen sehe.
Meist bin ich jetzt allein auf der Weide, und je weiter es in den Sommer geht, desto mehr Spaß macht mir das sogar. Schon die Furt am frühen Morgen, wenn meine Füße in dem angenehm kühlen Wasser prickeln, lässt mich jedes Mal fast jauchzen. Oder das betaute Gras an meinen Sohlen, die Morgenkühle an den Armen, die Wärme der frühen Sonne auf meinem Rücken: Ich genieße es! Genieße mit allen Sinnen die Natur, die mich umgibt, genieße sogar meine Einsamkeit, denn die bedeutet für mich hier und jetzt auch Ungebundenheit. So seltsam es klingt: Hier draußen bin ich frei! Und niemand kann es mir nehmen.
Hier draußen kann ich mich auch rächen, jedenfalls in Gedanken. Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie der Wüterich mich wieder einmal anbrüllt, und lasse ihn dann schrumpfen! Mache ihn – simsalabim! – zum Zwerg und lasse ihn im bodenlosen Schlamm des Misthaufens elend versinken. Oder ich setze mir meine Tarnkappe auf und schlage ihm den Knüppel um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Und er kann mir nichts tun, gar nichts, denn er weiß ja nicht, woher es kommt und wer ihn da prügelt! Nein, wer ihn da prügelt, das soll er schon wissen, sonst wüsste er ja gar nicht, wofür er seine Tracht bezieht! Oder ich sperre ihn ins Gefängnis und lasse ihn an den Stäben rütteln. »Lasst mich hier raus!« Ich aber mache die Zelle dann noch enger und hänge vor die Tür noch ein extra Schloss! – So klein ist er dann!
Bloß abends, wenn ich dann zum Hof zurückkomme, kann es passieren, dass es mir auf einmal einen Stich versetzt, wenn der Dreckskerl doch nicht tot ist, nicht im Mist verreckt und auch nicht im Gefängnis eingelocht. Wenn er dann mit seinem roten Gesicht und den geschwollenen Augen wie eh und je nur auf die Gelegenheit wartet, mich zu scheuchen und zu schlagen.
Gleich am Anfang auf dem Weg zur Weide ist eine flache Mulde, in der sich bei Regen das Wasser zu einer Pfütze sammelt. Jetzt ist sie trocken und der Schlamm rissig aufgeplatzt. Mit einem großen Satz springe ich immer darüber, denn wenn ich nicht darauf trete, werden auf der anderen Seite auch nicht die Jungen sein. Wenigstens nicht alle! Bisher hat es immer gestimmt.
Heute stimmt es auch. Vielleicht müssen sie ja in die Schule. Hoffentlich verdrischt sie der Lehrer jedes Mal! Nein, lieber nicht, weil sie sonst vielleicht Lust verspüren, ihr Mütchen an mir zu kühlen. Egal, am besten, sie bleiben mir aus den Augen!
Ich freue mich schon auf Mittag! Normalerweise hätte ich ja nichts anderes zu essen als mein Stückchen Brot. Aber seit ich die Sache mit der Sahne herausgefunden habe, weiß ich, dass ich meine beste Nahrungsquelle stets bei mir habe! Natürlich kann ich nicht mein Kännchen hierher mitnehmen, dann würden sie sofort merken, was los ist. Doch ich habe da eine andere Methode entwickelt, und die ist einfach, unauffällig und wirksam.
Als es Zeit fürs Mittagessen ist, gehe ich zu Martha.
»Ruhig, Martha«, sage ich, »ganz ruhig!«
Ich warte, bis Martha ihren Kopf hebt und mit dem Grasen aufhört. Dann lege ich mich rücklings unter ihr Euter und melke mir den Strahl direkt in den Mund. Das erste Mal war es ein komisches Gefühl, so unter der Kuh zu liegen und zu trinken. Schon das Zielen war schwierig: Die Hälfte ging daneben. Auch das Schlucken war im Liegen gar
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