Kalteis
Marlis Gürster, geb. Neumüller. Die 26-jährige Frau verließ am Mittwochmorgen gegen 10 Uhr den Frisiersalon ihres Mannes und begab sich laut dessen Angaben auf einen Radausflug nach Starnberg. Sie wurde zuletzt von Passanten gesehen, als sie mit ihrem Fahrrad Richtung Starnberg unterwegs war. Die Vermisste wird wie folgt beschrieben: ca. 165 cm groß, Gesicht rund, hohe Stirn, kleiner Mund, Zähne vollständig, untersetzte Figur, schwarze Haare. Bubikopffrisur. Sie trug zum angegebenen Zeitpunkt ein blau-weißes Dirndlkleid, weiße Söckchen, weiße Halbschuhe. Es ist nicht bekannt, ob die Vermisste einen Mantel oder eine Jacke bei sich hatte. Sie war unterwegs mit einem Damenfahrrad der Marke Viktoria. Ferner führte sie mit sich einen Bademantel, schwarzweiß gestreift, einen roten Badeanzug und einen kleinen Beutel mit Handarbeiten. Die Vermisste wollte nach Angaben des Ehemannes bis spätestens 7 Uhr wieder in der elterlichen Wohnung sein. Wurde aber, da sie dort nicht angetroffen wurde und auch im Verlauf des weiteren Abends nicht heimkehrte, als vermisst gemeldet.
Besondere Kennzeichen: keine. Die Vermisste trug einen Ehering mit dem Datum 7.5.34, einen goldenen Armreif sowie eine goldfarbene Damenarmbanduhr.
Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeidirektion München, Nachrichtenstelle für Vermisste, Fernruf 4321, Nebenstelle 316, erbeten.
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Marlis, meine Frau, habe ich am Mittwoch, den 30. Mai 1934, zum letzten Mal gesehen. Sie kam an diesem Morgen gegen zehn Uhr zu mir in den Frisiersalon. Mein Geschäft liegt in der Schleißheimerstraße 11 in München. Die Wohnung ihrer Eltern liegt ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter. Wir haben noch keine eigene Wohnung, deshalb wohnen wir zurzeit noch in der Wohnung ihrer Eltern, in ihrem alten Zimmer. Zurzeit, denn am 1. Juli wollen wir unsere erste eigene Wohnung beziehen. Meine Frau und ich, wir freuen uns schon sehr darauf. Sie sich noch ein bisschen mehr als ich. Mich stört es nicht, mit ihren Eltern in einer Wohnung zusammenzuleben. Ich habe mich immer recht gut mit meinen Schwiegereltern verstanden, besonders mit meiner Schwiegermutter. Ich gebe zu, ich bin ja auch den Großteil des Tages im Geschäft. Wenn ich nach Hause komme, essen wir noch mit den Schwiegereltern, ab und an hören wir gemeinsam Radio nach dem Essen. Aber eher selten, und danach gehe ich in unser Zimmer. Marlis ist den ganzen Tag zu Hause, seit wir verheiratet sind. Für sie war die Situation etwas schwieriger. Sie wollte endlich weg von zu Hause. Eine eigene Wohnung. »Alt und jung gehören nicht unter ein Dach«, hat schon immer meine Großmutter gesagt. Marlis streitet sich nicht selten mit ihren Eltern. Meist wegen Kleinigkeiten. Und häufiger mit ihrem Vater als mit ihrer Mutter. »Er behandelt mich immer noch wie ein Kind«, hat sie zu mir gesagt.
Marlis kann eine sehr eigensinnige Person sein, manchmal. Wenn sie glaubt, sie ist im Recht, dann nimmt sie kein Blatt vor den Mund, und so kommt es halt zu diesen Rei bereien zwischen Vater und Tochter. Den Dickkopf, den hat meine Frau von ihm geerbt. Er kann manchmal auch sehr rechthaberisch sein. Ich glaube, es liegt an seinem Beruf. Mein Schwiegervater war als Kommissär bei der Polizei, bis er in den Ruhestand versetzt wurde. Ich komme sehr gut mit ihm zurecht, wenn ich meine Ruhe haben will, gehe ich ihm einfach aus dem Weg. Aber ich denke, ich habe es mit ihm auch einfacher, ich bin nur sein Schwiegersohn.
Am Mittwoch ist die Marlis gegen zehn Uhr zu mir in den Laden gekommen. Sie besucht mich häufiger morgens, seit sie nicht mehr arbeitet. Bis zu unserer Eheschließung war sie in der Kanzlei Dr. Semmelmann als Kanzleiassistentin beschäftigt. Sie hat ganz gerne in der Kanzlei gearbeitet. Es hat ihr gefallen. Vor ein paar Wochen gab sie jedoch diese Tätigkeit auf. Wir wollen gemeinsam den Salon in der Schleißheimerstraße führen. Ein eigener Frisiersalon war immer mein Traum gewesen und Marlis denkt wie ich. Wir haben den Laden erst vor kurzem übernommen und meine Frau will in ein paar Wochen, nach dem Umzug, mit mir gemeinsam dort arbeiten. Das war auch der Grund, warum sie ihre Büroarbeit aufgegeben hat.
Wie sie am Mittwoch zu mir in den Laden kam, war sie etwas verärgert. Sie war wieder mit ihrem Vater aneinandergeraten. Mir erzählte sie, sie hätten sich darüber gestritten, wer das Licht im Keller nicht gelöscht hätte. Das war eine dieser Kleinigkeiten, über die sie sich zanken. Marlis
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