Kalter Amok
würde, der Bandolin eine tödliche Dosis Tollwutviren zu verpassen. Als die Polizei sah, wie Rafael dem Mädchen die Injektion gab, eine Injektion, von der Rafael annehmen mußte, daß sie die tödlichen Viren enthielt, warum hatte sie da noch siebzehn Minuten gewartet, ehe sie die Suite stürmte? Hatten die Beamten nicht gesehen, was sie sehen wollten? Da die Bandolin von der Wirkung des Rauschgifts bewußtlos geworden war, hatten sie ihr Leben gefährdet, indem sie die medizinische Versorgung hinauszögerten in der Hoffnung, den Angeklagten auch noch eines Akts der Vergewaltigung überführen zu können. Als sie dem Angeklagten gestatteten, noch länger als eine Viertelstunde mit der schönen, bewußtlosen und nackten jungen Frau in der Suite zu verbringen, hatten sie einen Akt der Anstiftung begangen zum Zwecke der Erlangung von Beweisen, welche die Polizei nicht erhalten hätte, wenn dem Angeklagten nicht diese Zeit gewährt worden wäre. Hatte die Polizei nicht sogar selbst ein Verbrechen begangen, indem sie zuließ, daß das Mädchen das Opfer eines möglichen Verbrechens wurde, eines Verbrechens, das die Polizei ohne weiteres hätte verhindern können? Außerdem: Wie konnte die Polizei wissen, daß das Mädchen nur bewußtlos und nicht tot war, als es auf dem Boden zusammenbrach? In beiden Fällen hätten die Polizeibeamten sofort handeln müssen, um weitere Verbrechen zu verhindern. Wenn das Mädchen gestorben wäre – hätte sich die Polizei dann nicht der Beihilfe im Amt schuldig gemacht? Waren sie nicht bereits schuldig geworden – schuldig der passiven Duldung eines Verbrechens und obendrein der schamlosesten Art von Voyeurismus? Außerdem führte Massey an, daß sein Mandant bei der Festnahme mißhandelt worden sei und eine gebrochene Nase, mehrere Risse und Verletzungen davongetragen habe, die genäht werden mußten.
Natürlich hatte Million diesen Angriff der Verteidigung vorhergesehen und eine ausführliche Verteidigung seines Verhaltens vorbereitet. Aber es wurde ein schwieriger Fall, ganz gleich, aus welcher Position man ihn betrachtete.
Am Ende freilich konnten weder die Verteidigung noch die Anklage ihre so sorgfältig vorbereiteten Plädoyers vor dem Richter und den Geschworenen halten. Obwohl man Dolores do Bandolin sehr sorgfältig bewacht und beschützt hatte, was dem Büro des Staatsanwalts keine geringen Kosten verursachte, war man zuletzt doch nicht sorgfältig genug gewesen. Eines Abends, drei Wochen vor Beginn des Prozesses, war sie kurz vor dem Essen zum Einkaufen gefahren worden. Im Supermarkt war sie untergetaucht und verschwunden. Zwei Tage später hatte sie ein Taxi von einem billigen Motel auf der Südseite der Stadt zum Internationalen Flughafen gebracht, und sie war an Bord einer direkten Maschine nach Rio de Janeiro gegangen. Sie verschwand in den Slumhöhlen, aus welchen sie fast zwei Jahre zuvor in die Vereinigten Staaten gekommen war.
Haydon nahm den Hörer von der Gabel, damit es nicht weiter klingelte. Er wollte nicht sprechen, legte den Hörer neben sich und schaute zu Nina hinüber. Sie war wach und sah ihn an.
»Findest du nicht, du solltest wenigstens mit ihnen reden?«
Er lag flach auf dem Rücken und schaute über das Fußende des Betts hinweg zu den hohen Fenstern, die hinausgingen auf die Terrasse und den darunterliegenden Rasen. Die Fenster waren offen, und ein schwacher Duft von Zitronenblättern kam herein.
Nina fuhr mit ihren langen Fingern durch das Haar auf seiner Brust. Sie nahm den Hörer und drückte ihn an sein Ohr.
»Hallo? Jemand da? Hallo? Detective Haydon?«
»Hier ist Haydon«, sagte er heiser.
»Ich fürchte, ich habe Sie geweckt.«
Haydon schaute auf die ovale Cartier-Uhr neben dem Bett. Es war zwei Uhr fünfzehn.
»Wer spricht?«
»Detective West, Sir. Wir haben ein Problem in dem Haus am University Place, mit dem Sie vor einiger Zeit zu tun hatten.«
Haydon konnte es nicht glauben. Er fühlte, wie ihn eine Welle der Übelkeit überkam.
»Hier ist ein Kerl, dessen Gesicht völlig weggeputzt ist. Die Frau hier meint, sie möchte Sie sprechen. Ich weiß nicht, wer sie ist. Sie möchte keinen Namen nennen.«
»Ich komme«, gab Haydon Bescheid. Nina legte den Hörer auf, lag dann einen Moment lang im Dunkeln und schaute auf das bläuliche Licht, das durch die Fenster hereinkam.
»Mein Gott«, sagte er nach ein paar Minuten, dann stand er auf und zog sich an.
Sämtliche Möbel in dem Haus waren mit weißen Staubschutzbezügen
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