Kalter Fels
Käsetheke verschiedene Sorten aus Schafs- und Ziegenmilch. Dazu noch weiße Weintrauben, ziemlich teuer. Aber das durfte für eine so besondere Nacht keine Rolle spielen. Zu guter Letzt waren sie in einer Pâtisserie in der Avenue Victor Hugo zwanzig Minuten lang in der Schlange gestanden, um sich Pralinen in eine kleine Geschenkbox samt Schleifchen und Tragegriff einpacken zu lassen – das war hier so üblich, ob man dies nun brauchte oder nicht.
»Überraschung!«, sagte Marielle spitzbübisch grinsend.
Und dann holte sie, so wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder, den Gaskocher aus ihrem Rucksack, danach einen kleinen Topf und, abgefüllt in zwei Frischhaltetüten, Nescafé und Milchpulver.
»Du bist verrückt!« Pablo strahlte sie an. »Schleppst auch das ganze Zeug noch hier rauf. Aber eines hast du übersehen. Es gibt kein Wasser hier. In den ganzen Calanques gibt es kaum irgendwo Wasser. Zumindest kein Trinkwasser. Nur Salzwasser. Davon allerdings genug.«
Sie grinste übers ganze Gesicht, dann gab sie der Mineralwasserflasche mit dem Fuß einen Stoß.
»Dummkopf«, sagte sie.
* * *
Rechtsanwalt Dr. Helmut M. Reuss schaute zu, wie Schwarzenbacher sich die Stufen zum Eingang seiner Kanzlei in der Bienerstraße hinaufquälte. Er war an das schmiedeeiserne Geländer herangefahren, hatte sich eingeklammert und so aus dem Rollstuhl gezogen. Nun arbeitete er sich Stufe für Stufe hoch, während Reuss wie teilnahmslos am oberen Treppenabsatz stand und Schwarzenbacher in seinen enormen Anstrengungen beobachtete.
»Als dieses Haus gebaut worden ist«, sagte er, »gab es entweder noch keine behinderten Menschen, pardon: ich meine Menschen mit Handicap, oder es war allen einfach egal. Du musst also schon entschuldigen, dass dich kein barrierefreier Zugang erwartet …«
»Geh scheißen …«, schnaubte Schwarzenbacher halblaut zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch.
»Du bist doch selber schuld«, sagte Reuss. »Du hättest mich anrufen können. Wir hätten uns auf einen Kaffee in der Stadt getroffen. Wie sonst auch. Aber du …«
»Mein Leben ist auch so langweilig genug«, sagte Schwarzenbacher schwer schnaufend, als er die Stufen überwunden hatte, »da muss ich nicht noch mit Fleiß immer das Gleiche tun.«
»Sturer Kerl«, sagte Reuss und grinste. »Brauchst du deinen Rollstuhl hier heroben?«
Schwarzenbacher schüttelte den Kopf. »Bis zu einem Stuhl und einer Tasse Kaffee werd ich es schon noch schaffen – mit Gottes und mit deiner Hilfe. Aber du könntest runtergehen und was holen. In der Tüte, die dranhängt, ist etwas für dich. In Geschenkpapier! Ein verspätetes Weihnachtsgeschenk. Aber bitte keine falschen Sentimentalitäten. War ein Sonderangebot.«
Ein paar Minuten später saßen sie in Reuss’ hellem Besprechungsraum. Die Wände in einem zarten Ocker, gekrönt von leuchtend weißem Stuck. Ein ovaler Glastisch, sechs braune Lederstühle mit hohen Rückenlehnen. An der einzigen Wand, die nicht von einer Tür oder von Fenstern durchbrochen war, hing ein riesiges Gemälde: wild, vielfarbig, ungerahmt.
Während Reuss an der Espressomaschine hantierte, die auf der Anrichte stand, versuchte Schwarzenbacher in dem Gemälde zu lesen, es zu entschlüsseln. Er hatte es eigentlich immer lieber, wenn moderne Künstler irgendwas hineinschrieben in ihre Bilder. Oder wenn im Museum auf kleinen Metallschildern die Titel dabeistanden. Aber auch ohne Titel: Es gefiel ihm. Die Farbakzente, das Nebeneinander von geradezu im Widerspruch stehenden Farben, die harten schwarzen Pinselstriche, die das Gewoge und das Über- und Untereinander wie willkürlich zu brechen schienen – all das erinnerte ihn an Musik, an Jazz, an … Er versuchte herauszufinden, an welches Stück von Larry Coryell ihn das Bild erinnerte, welche Musik sich paaren lassen würde mit dieser Malerei. Er kam nicht drauf. Aber er beschloss, zu Hause die alte Doppel-LP »The Essential Larry Coryell« herauszukramen und, die Stimmung dieses Bildes im Gedächtnis, wieder mal anzuhören.
»Du hast Glück, dass ich da bin«, sagte Reuss, als er zwei Cappuccini auf den Glastisch stellte. »Wir haben die Kanzlei zwischen Weihnachten und Neujahr zugemacht. Das ganze Haus ist leer. Die Kollegen machen Urlaub, das Personal ist in den Urlaub geschickt, niemand ist hier. Ich mag das. Da kann ich in aller Ruhe mal Dinge in Ordnung bringen, die lange liegen geblieben sind. Kein Zeitdruck, keine Termine, keine Mitarbeiter,
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