Kalter Fels
Deutsche. Soweit ich das verstanden habe, hat sie längere Zeit in Spanien gelebt, mit ihrem ersten Mann. Dann geschieden oder verwitwet, darauf habe ich noch nicht so genau geachtet. Jedenfalls ist sie wieder verheiratet und lebt in einer Kleinstadt irgendwo in der Nähe von Augsburg. Das ist fünfzig oder sechzig Kilometer westlich von München …«
»Ich weiß, wo Augsburg liegt«, warf Schwarzenbacher ein.
»Mag sein, dass sie fanatisch ist in ihrer Überzeugung, ihr Bruder und vielleicht noch andere Bergsteiger seien ermordet worden. Mag sein, dass sich das bei ihr zur Manie gesteigert hat. Vielleicht sind doch alles nur Hirngespinste. Aber du weißt ja selbst: Nur mit Vernunft würden keine Fälle gelöst. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie mit ihren Überlegungen ziemlich genau ins Schwarze trifft.«
»1974 ein Mord«, konstatierte Schwarzenbacher. »Und sie vermutet weitere, ähnlich geartete … Wir sollten sie treffen. Wir müssen ausführlich mit ihr reden.«
Reuss nickte zustimmend. »Wenn sie recht hat, könnten wir es mit einem Serientäter zu tun haben, der vielleicht über Jahrzehnte hinweg sein Unwesen getrieben hat. Dann ginge es um mehrere Morde und nicht um tragische Unglücksfälle. Nicht um Tode aufgrund ›objektiver Gefahren‹, wie die Bergrettung dazu sagt. Morde von fürchterlicher Brutalität. Und Motiv ist keines zu erkennen.«
Schwarzenbacher schob die Zeitungsausschnitte von sich weg. Er sog die Unterlippe ein und kaute darauf herum. »Ich vermute, du willst, dass wir etwas unternehmen.«
Das Lächeln von Reuss war längst verflogen. »Ja«, sagte er. »Wir sollten was unternehmen. In der Angelegenheit Mannhardt. Und auch sonst sollten wir die Fühler ein bisschen ausstrecken.«
Der frühere Kriminaler Paul Schwarzenbacher, dessen Ermittlungserfolge und Instinkte ehedem berühmt und berüchtigt gewesen waren, hätte sich am liebsten sofort in die Arbeit gestürzt. Er wollte mehr wissen, mehr erfahren, mit Reuss die konkrete Vorgehensweise besprechen. Aber Reuss musste ihn vertrösten.
»Ich hab mich gefreut, dass du vorbeigeschaut hast, aber jetzt … Ich bedaure es ja, aber es sind Ferien … Die Familie, die Kinder, du verstehst. Wir sollten ein Treffen vereinbaren, wenn wir wirklich Zeit haben …«
Ich hab immer Zeit, dachte Schwarzenbacher, der den Wink mit dem Zaunpfahl sehr wohl verstand und sich mit ganzer Armkraft auf dem Tisch aufstützte und den Oberkörper hochschob. Er hatte viel Kraft in den Armen und im Oberkörper. Aber er wusste auch, dass Multiple Sklerose in Schüben kam – und dass er sich eines Tages nicht mehr so würde aufstützen können, dass es nur mehr eine Frage der Zeit war, bis seine Arme so schwach wären wie seine Beine.
Als er seinen Körper die Außentreppe wieder hinunterbugsierte, diesmal allerdings gestützt von Reuss, sagte der noch: »Auf jeden Fall ist das eine Geschichte, bei der wir mit ziemlicher Sicherheit unsere Marielle brauchen können. Und auch ihren Freund, Pedro.«
»Er heißt nicht Pedro«, sagte Schwarzenbacher. »Er heißt Pablo, solltest du dir merken.« Dann ließ er sich in den Rollstuhl fallen, rückte seine schwachen Beine auf der Fußstütze zurecht, ruckte an den Hosenbeinen, legte den Kopf ein wenig in den Nacken.
»Also«, sagte er. »Ich erwarte deinen Anruf. Und zwar bald. Oder glaubst du, du kannst mir die Zähne lang machen und dann die Zeit sinnlos verstreichen lassen? Ich warte!«
Reuss nickte lächelnd und hob die Hand, um ihm nachzuwinken. Aber das sah Schwarzenbacher schon nicht mehr. Mit kräftigen Armbewegungen rollte er davon.
* * *
Marielle empfand es als kleines Wunder, dass hier am Meer, nicht einmal tausend Kilometer von zu Hause entfernt, der Winter so erträglich war. An den vergangenen Tagen waren sie im T-Shirt geklettert, waren in der Sonne gesessen – »und daheim frieren sie sich den Arsch ab«, hatte Pablo gesagt.
Jetzt, lange nach Einbruch der Dunkelheit, war es noch immer mild. Sie hatten die Schlafsäcke an den Reißverschlüssen zusammengehängt und lagen nackt und eng aneinander. Die Nacht war nun, um kurz nach halb zehn, so warm, dass sie den Reißverschluss nicht bis obenhin zuzuziehen brauchten. Oder sind es nur unsere Körper?, fragte sich Marielle. Sie spürte die Hitze auf Pablos Haut, spürte sein schlaffes, zufriedenes Glied feucht an ihrem Oberschenkel, und sie glaubte, selbst zu dampfen. Ihren Kopf hatte sie in Pablos Schulterkuhle gelegt. Er atmete
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