Kalter Fels
die irgendwas von einem wollen. Aber …«, Reuss nippte am schaumigen Cappuccino, »aber sag mal: Wie geht es dir? Und was verschafft mir die Ehre?«
Er packte das Präsent aus dem Geschenkpapier, begutachtete den Titel des Buches und dankte mit einem Nicken und einem Lächeln.
»Ich hatte nicht viel zu tun«, sagte Schwarzenbacher. »War nur so unterwegs. Und da dachte ich mir …« Er leckte sich den Milchschaum von der Oberlippe. »Also, da dachte ich mir: Schau doch mal vorbei beim Herrn Staranwalt. Wahrscheinlich ist er nicht da. Aber vielleicht ja doch. Und siehe da …«
Reuss lächelte und sah Schwarzenbacher erwartungsvoll an.
»Nun gut. Ich will nicht lange drum herumreden: Mir ist wieder mal die Decke auf den Kopf gefallen. Weihnachten. Kling, Glöckchen, klingeling. Du verstehst? Mir ist langweilig, verdammt langweilig. Und da habe ich mir gedacht, wir könnten uns endlich mal mit der einen oder andern Geschichte befassen. Du weißt, was ich meine.«
Helmut Reuss wusste genau, worauf sein Gegenüber hinauswollte. Die beiden, den früheren Kriminalbeamten und den Staranwalt, verband mehr als gegenseitige Sympathie. Sie hatten die gleiche, etwas eigenartige Obsession – sie waren fasziniert von nie aufgeklärten Kriminalfällen in den Bergen.
»Wenn einer seine Frau verschwinden lassen möchte«, hatte Schwarzenbacher einmal gesagt, »dann muss er mit ihr nur auf eine Bergtour gehen. Im Karwendelgebirge zum Beispiel. Wenn sie am schmalen Steig stolpert und in den Abgrund stürzt – wie sollte man es dem Ehemann beweisen, dass er nachgeholfen hat? Das Gebirge ist ideal für den perfekten Mord.«
»Den fast perfekten Mord«, hatte Reuss damals angefügt. »Den fast perfekten Mord. Irgendetwas verrät doch immer, was wirklich geschehen ist, oder?«
Jeder von ihnen hatte seine eigene kleine, bizarre Sammlung von Zeitungsberichten, ältere und neuere, über solche unaufgeklärten Fälle. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Vermutungen und Verdächtigungen dazu. Wenn sich diese Vermutungen zu überschneiden begannen, dann wähnten sie sich auf einer vielversprechenden Fährte.
Alte Fälle. Die bei den Behörden längst in den Aktenkellern schlummerten. Verbrechen, die kaum noch jemanden interessierten außer den Hinterbliebenen der Opfer. Und wahrscheinlich den Tätern, die sich nie ganz sicher sein konnten, nicht doch noch überführt zu werden.
* * *
Sie sahen die Sonne im Meer untergehen. Der letzte Sonnenuntergang in diesem Jahr. Der Himmel spielte in allen Farbtönen zwischen Goldgelb und Orange, zwischen Azur und hellem Violett. Das Meer lag glatt, beinahe wellenlos, es ging fast kein Wind, und so konnten sie sich freuen auf eine ruhige Nacht – ruhig, was das Wetter anging.
Sie hatten gegessen und getrunken, jetzt genossen sie die besondere Stimmung des Augenblicks. Still saßen sie nebeneinander, beide mit angewinkelten Knien; Marielle hatte die Arme auf die Knie und das Kinn auf die Arme gelegt, Pablo hatte sie um die Schulter gefasst. So saßen sie im Licht der untergehenden Sonne, in der Stunde des ausklingenden Silvestertages.
Irgendwann brach sie das Schweigen: »Wenn wir nachher einschlafen … ich meine, um acht oder um neun … ich weiß nicht, ob ich dann zu Mitternacht noch mal wach zu kriegen bin.«
»Ich stell den Handywecker«, sagte Pablo. »Wär doch schad, wenn wir diesen Jahreswechsel verschlafen würden.«
Marielle drückte sich fest an ihn. Sie sah ihn nicht an, sondern schaute unverwandt aufs Meer. »Was spräche dagegen, einfach von diesem Jahr ins nächste hinüberzuschlafen? Soweit ich weiß, machen die Franzosen kein Feuerwerk. Da wird in Marseille und Cassis nicht viel los sein. Und hier, wo die Waldbrandgefahr so hoch ist, eh nicht. Kein bunter Feuerzauber am Himmel. Wir versäumen also nichts.«
»Hey«, maulte Pablo, »du Stimmungsmuffel. Was ist mit dem Champagner? Was ist mit den guten Vorsätzen? Was ist mit dem langen Kuss?«
Jetzt sah sie ihn an. Ihr Lächeln war im Dämmerlicht fast unsichtbar. »Dummkopf«, sagte sie. »Der Sekt wäre jetzt besser als in ein paar Stunden – noch nicht ganz so warm. Die Vorsätze … das kriegt man ja doch nicht geregelt. Und was spricht dagegen, sich jetzt zu küssen?«
»Nur küssen?«, sagte Pablo und fasste ihr in die Kniekehle. »Wirklich nur küssen?« Seine Hand wanderte langsam an der Unterseite ihres Oberschenkels entlang, kehrte scheinheilig noch einmal zurück zum Ausgangspunkt, um dann umso
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