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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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gewichen. Sie hatte der Gewissheit Platz gemacht, dass er nicht so weiterleben würde wie bisher. Er würde seine Schuld verbüßen. Oder er würde sich das Leben nehmen. Wie sollte er da noch Angst haben davor, von Gensner erdrosselt zu werden?
    Als er wieder etwas Luft bekam, sagte er mit gepresster Stimme: »Du kannst mich erwürgen. Tu es, wenn du glaubst, dass du noch einen Mord schultern kannst. Wenn du es allerdings nicht tust, stelle ich mich der Polizei. Ich werde ein umfassendes Geständnis ablegen.«
    Er spuckte noch einmal auf den Boden, richtete sich dann wieder ganz auf und sagte: »Wenn ich du wäre, würde ich zur Polizei gehen. Oder schauen, dass ich im Ausland untertauche. Und jetzt verpiss dich, verdammt noch mal. Verpiss dich!«
    Gensner war ratlos. Er war soeben mit der Gewissheit konfrontiert worden, dass seine Zukunft aufgehört hatte. Dass er in Gefahr schwebte, war ihm die ganze Anreise von München an die Nordsee bewusst gewesen; doch jetzt, da sich die Schlinge um ihn zuzog, war es ein Schock, vielleicht der größte seines bisherigen Lebens. Er konnte Klar laufen lassen – dann würde der zur Polizei gehen. Die Alternative war, ihn umzubringen, gleich oder später.
    »Wir haben zwei Männer getötet, die uns nichts getan haben«, sagte Klar keuchend. »Es war deine Idee. Zumindest beim ersten Mal. Und du hast als Erster zugeschlagen. Ich hab nur zugesehen, beim ersten Mal. Aber ich habe fasziniert zugesehen. Ja, fasziniert. Es war ein unglaubliches Erlebnis, diesen Mann zu Boden sinken zu sehen. Ein Gefühl von ungeheurer Stärke hat mich da berauscht. Ein Gefühl von Macht über Leben und Tod. Aber das hat sich alles ins Gegenteil verkehrt …«
    Die Spaziergänger am Deich kamen immer näher. Ein älteres Paar mit einem kleinen Hund. Der Hund interessierte sich nicht für die beiden Männer, die sich in sonderbaren Körperhaltungen gegenüberstanden. Das Paar hingegen warf ihnen neugierige Blicke zu, als es an ihnen vorbeiging. Die Hundebesitzer schienen von Weitem gesehen oder geahnt zu haben, dass hier etwas von großer Tragweite vor sich ging. Noch in hundert Metern Entfernung wandten sie sich zwei-, dreimal um und schauten verstohlen zu Gensner und Klar.
    »Es war nicht meine Idee«, fauchte Gensner. »Nicht meine Idee allein! Es war ein Spiel, eine Art Mutprobe. Und die ist an mir hängen geblieben, weil ihr damals nicht die Nerven dazu hattet. Ich hab es damals gewusst und sehe es heute bestätigt: Du bist eine verdammte Memme …«
    »Dann bin ich eben eine Memme«, sagte Klar. »Eine Memme und ein Mörder. Du wirst ja nicht vergessen haben, dass ich beim zweiten Mal auch zugeschlagen habe. Da lag der Mann schon am Boden. Du hast geschrien und uns angefeuert. Wir waren wie im Rausch. Es war, als wollten wir noch einmal ganz genau sehen, wie es ist, wenn einer stirbt.«
    Klar wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke Tränen aus den Augen.
    »Und wir haben es erlebt. Wir haben gesehen, wie der Mann zuckend verendet ist. Ich hab es so genau gesehen, dass ich die Bilder wie eine perverse Diashow in meinem Kopf habe. Und diese Diashow läuft ununterbrochen, hört nie auf. Da willst du mir Angst machen? Du Arschloch kannst mir keine Angst mehr machen.«
    Gensner sah hinaus aufs Watt, sah hinter Klar den Deich entlang, drehte sich um und sah hinter sich nichts als Einsamkeit.
    Das Paar mit dem Hund war weit weg, aber es reichte ihm noch nicht.
    »Du musst nichts tun, außer dein Maul zu halten.« Gensner schien um Fassung zu ringen. Dabei konnte er seine Wut, seine tödliche Wut, nur schwer verbergen. »Dein Maul halten und dich in deine Vorhaut zurückziehen. Du musst dich unsichtbar machen, unauffällig sein. Oder nach Patagonien verschwinden. Wenn du dich daran hältst, dann geschieht uns nichts. Wenn nicht …«
    Er sah die Spaziergänger in weiter Ferne den Deich verlassen.
    »Wenn nicht«, sagte er durch seine zusammengepressten Zähne hindurch, »dann bleibt mir gar nichts anderes übrig.«
    Er nahm die dünne Reepschnur aus der Innentasche seiner Jacke und wand sich die Enden um beide Hände.
    »Ich geh nicht in den Knast«, sagte er, beinahe flüsternd jetzt. »Ich geh niemals in den Knast. Und schon gar nicht wegen dir.«
    Klar sah ihn an und schüttelte den Kopf. Ganz langsam nur, dann entschiedener. Und dann sagte er etwas, was Gensner wieder nicht erwartet hätte.
    »Nicht hier«, sagte er. »Wenn du mich töten willst, dann nicht hier. Das ist meine einzige

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