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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Bitte.«
    »Warum? Was soll das?«
    »Ich weiß es nicht. Aber ich will einfach nicht, dass ich hier liege. Hinter dem Deich … dort ja, zwischen Büschen und Bäumen … nicht hier.«
    Gensners Gesicht spiegelte viele Emotionen und alle auf einmal: Erstaunen, Wut, Sarkasmus – und fassungslose Amüsiertheit. Diese Amüsiertheit manifestierte sich nach einigen Sekunden als breites Grinsen in seinem Gesicht.
    »Du bist nicht nur ein Arschloch«, sagte er zu Klar, »du bist ein Idiot. Du bist gleich tot. Was spielt es da für eine Rolle, ob du hier am Deich liegst oder fünfzig Meter weiter unter irgendeinem Strauch?«
    In tiefstem Ernst sagte Klar: »Ich will nicht, dass mir die Möwen die Augen aushacken, bevor mich jemand findet.«
     
    Ziemlich genau zur selben Zeit fuhren zwei Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug in der Wohnanlage vor, wo Olaf Klar seit mehreren Jahren ein Apartment gemietet hatte. Die Beamten waren schnell umringt von Neugierigen aus der Nachbarschaft, alten Leuten, Kindern, Hausfrauen, Halbwüchsigen; den Mann, den sie festnehmen wollten, trafen sie freilich nicht an.
    Der stand fünfundzwanzig Kilometer westlich auf dem Deich, hatte sein Todesurteil gehört und angenommen. Olaf Klar und Steffen Gensner waren im Begriff, den Deich über eine Treppe landeinwärts zu verlassen. Da blieb Klar stehen und sagte: »Lass mich das Meer noch einmal sehen. Ein letztes Mal.«
    Sie blieben stehen, wandten sich um.
    »Das ist nur ein Sumpf, kein Meer«, sagte Gensner. Er versuchte einen Moment lang, in der Ferne das Wasser zu erkennen. Es war nur ein Moment. Doch der kostete ihn das Leben.
    * * *
     
    Beim Laufen dachte Marielle an alles Mögliche. Das Laufen war ihr nicht nur Training, sondern auch eine Art Meditation. Sie ließ die Gedanken kommen, hielt sie aber nicht fest, sondern ließ sie weiterziehen. Den schönen Gedanken lächelte sie zu und lächelte ihnen nach. Den schlechten Gedanken gab sie einen kleinen Schubs, damit sie sich schneller wieder davonmachten – was allerdings nicht immer gelang.
    Sie dachte an ihren Unfall im Kaisergebirge – und scheuchte den Gedanken davon. Sie dachte an die Stunden vor dem gestrigen Einschlafen und was Pablo mit ihr gemacht hatte und sie mit ihm – und sie lächelte und war glücklich und lächelte der Erinnerung nach. Sie dachte an den Mörder Ferdinand, der sich wahrscheinlich im Gebirge versteckt hielt und der bislang einfach nicht zu finden war – und ihre Miene verfinsterte sich, und sie war froh, als sie diese Überlegungen wieder fortschicken konnte. Sie dachte an ihren Vater und war ein wenig unglücklich, dass sie ihn so selten traf. Sie dachte an ihre Mutter, die so früh gestorben war – und gab dem Bild, das sie von ihr gerade hatte, einen Schubs, damit sie nicht stehen bleiben und zu heulen anfangen musste. Sie dachte an ihren Bruder und überlegte kurz, ob sie traurig sein musste, weil sie so gar keinen Kontakt hatten, oder ob es ihr nicht eigentlich egal sein sollte. Und dann dachte sie – und das war schön – an die Reise nach Südfrankreich, die sie und Pablo im Winter unternommen hatten. Sie sah den strahlend weißen Fels, sie roch den Rosmarin und spürte den milden Wind in ihrem Gesicht. Sie hörte das Meer, und sie sah seine Farbe: türkis und durchsichtig bis auf den Grund. Und sie dachte: Da möchte ich bald wieder hin. So schön ist das Meer.
    * * *
     
    Gensner suchte das Meer. Wieder flog eine riesige Möwe nah an ihm und Klar vorbei. Und Gensner dachte, dass es verdammt trostlos war und dass er sich nicht erklären konnte, was die ganzen Touris an der Nordsee so toll fanden.
    Dann sah er aus den Augenwinkeln eine rasche Bewegung von Klar, meinte erst, der würde davonlaufen wollen, aber es waren nicht die Beine, die sich bewegten, es war ein Arm, eine Hand, und alles ging so schnell, dass er sich erst über das Geschehnis klar wurde, als er einen ungeheuren Schmerz im Oberschenkel verspürte.
    Er wollte einen Ausfallschritt tun, sich auf Klar zubewegen, aber sein rechtes Bein gab nach. Der Schmerz schoss ihm in den Unterleib, fuhr dann wie ein Stromschlag die Wirbelsäule empor Richtung Gehirn; er hatte das furchtbare Gefühl, seine Hoden würden dabei in seinen Körper hineingerissen und hochgezogen bis irgendwo in den Brustraum, und er glaubte, sich schreien zu hören.
    Was er noch sah, war die zurückschnellende Hand von Klar. Und ein gar nicht großes Taschenmesser, von dessen Klinge Blut troff. Sein Blut.
    Als

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