Kalter Fels
nicht. Auch nicht, wer verantwortlich war für diesen Tod. Und ob der Mörder noch in der Nähe sein könnte.
Die einzige Frage, die gestellt wurde, kam von ihm:
»Siehst du die Ameisen, die in seinem Gehirn herumkrabbeln?«
Von den Ameisen erwachte Oltmanns. Seine Frau und er pflegten in getrennten Zimmern zu schlafen. Er hätte sie jetzt gern neben sich liegen gehabt, sie in den Arm genommen, sich an sie gedrückt. Als er sich auf die Bettkante setzte, merkte er, dass seine Beine schwach waren und seine Hände zitterten. Der Traum hatte ihn schockiert, und die geträumten Szenen hatten sich über all seine Gedanken und Gefühle gelegt.
Mühsam erhob er sich, wacklig ging er ins Badezimmer, wo er am Waschbecken den Kopf unters kalte Wasser hielt. Auf dem Beckenrand der Badewanne sitzend überlegte er sich, was zu tun war. Er brauchte nicht lange für seine Entscheidung.
Er wollte seine Frau nicht wecken. Er würde sich in der Küche einen Kaffee machen, eine Scheibe Brot essen – vielleicht half das gegen das Gefühl der Übelkeit, das diese Nacht mit sich gebracht hatte –, er würde sich ankleiden und, ohne noch einmal Zweifel zuzulassen, zur Polizei gehen. Es war jetzt sieben.
Um acht gehe ich hin, dachte der Superintendent.
Der Druck auf seiner Seele und auf seinem Gewissen war zu groß, war einfach nicht mehr auszuhalten.
13
Es herrschte eine besondere Stimmung im Besprechungszimmer der Kanzlei. Zu sechst saßen sie am großen Tisch, Reuss, Schwarzenbacher, Marielle und Pablo und außerdem noch Hosp und Frau Gehrig-Mannhardt.
Der Fall Mannhardt war keine alte Geschichte mehr. Trotz der langen Zeit, die vergangen war, war die Leiche, wie Schwarzenbacher im kleinen Kreis zu sagen pflegte, noch warm.
Jetzt war die Kripo am Zug – und es war nun die Aufgabe von Hosp und seinen Leuten, Ferdinand Senkhofer zu fassen. Dass es alles andere als leicht sein würde, das wussten alle nur zu gut. Auch die Schwester des ermordeten Karl Mannhardt.
»Ich möchte Ihnen danken, Herr Dr. Reuss«, sagte sie. »Und Ihnen auch.« Sie sah Schwarzenbacher an. »Dr. Reuss hat mir erzählt, dass Sie sich sehr stark engagiert haben.«
Schwarzenbacher machte eine Schnute.
Er riecht nach Rasierwasser, dachte Marielle. Ganz neue Angewohnheiten. Was ist los mit ihm – bessere Kleidung, Eau de Cologne, rasiert … Nur der Haarschnitt bräuchte noch mehr als nur eine Nachbesserung.
»Zu viel der Ehre«, sagte Schwarzenbacher. »Ich hatte lediglich von allen am meisten Zeit und konnte mich deshalb am intensivsten in die Nachforschungen stürzen. Und es hat nicht lange gedauert, bis Ihre These vom Mord an Ihrem Bruder in mir einen Verfechter gefunden hatte. Und ich habe ebenfalls schnell daran zu glauben begonnen, dass er nicht der Einzige ist, dessen Tod in den Bergen fälschlicherweise als Unfall deklariert worden ist.«
Die Frau, die nach fünfunddreißig Jahren die Aufklärung des Todes ihres Bruders in die Wege geleitet hatte, nickte. Ihre Augen leuchteten. Sie schien wirklich froh darüber zu sein, bei diesem etwas ungewöhnlichen Team Gehör gefunden zu haben.
»Wird man dieses Schwein erwischen?«, sagte sie und sah in die Runde. »Sie werden verstehen, dass für mich diese Sache nie abgeschlossen sein wird. Aber vielleicht kann ich Frieden finden, wenn ich weiß, dass dieser Kerl hinter Schloss und Riegel sitzt.«
Reuss schaute zu Schwarzenbacher, aber der sah nur mit Pokerface zurück. Es blieb dem Anwalt nichts anderes übrig, als selbst die Sachlage darzulegen. »Ich verstehe Sie«, begann er. »Ich kann Sie wirklich gut verstehen.« Reuss setzte mit einer winzigen Sprechpause einen imaginären Doppelpunkt: »Was ich sagen möchte: Es braucht nicht unseren Hass, um sich klar zu sein, dass dieser Mensch aus dem Verkehr gezogen werden muss. Ich in meiner Funktion als Jurist sollte es ohnehin tunlichst vermeiden, Hass oder andere ähnlich starke Emotionen in einem Fall zu entwickeln. Ich muss mich, genauso wie Paul Schwarzenbacher oder die jungen Leute in unserem Team, an die Fakten halten. Zugegeben, vom Gefühl her wäre es uns lieber, es mit einem kalt kalkulierenden Mörder zu tun zu haben – dem könnten wir mit ungebrochener Abneigung begegnen. Aber, liebe Frau Gehrig-Mannhardt, die Welt ist nie nur schwarz und weiß. Ich bin schon oft Schwerstverbrechern begegnet, die auch gute Charakterzüge aufgewiesen haben. Und ich kenne Politiker, Professoren, Pastoren, allesamt juristisch nicht belastbar,
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