Kalter Fels
der erste Schmerz verebbte, ließ sich Gensner auf die Knie sinken. Er sah, dass Klar davonlief, aber das war jetzt nicht mehr sein Problem. Er musste den Oberkörper ein wenig drehen, um die Einstichstelle sehen zu können. Sie lag knapp unter dem Gesäß.
Der Schock war größer noch als der Schmerz. Gensner sah, wie durch den schmalen Schnitt in seiner Jeans das Blut in pumpenden Schwallen austrat. Er wusste sofort, dass eine Hauptschlagader getroffen worden sein musste. Er riss die Reepschnur wieder aus der Tasche, ließ sich zur Seite fallen, damit er sein Bein freibekam.
Abbinden, dachte er. Schnell abbinden.
Aber das ging nicht. Die Wunde lag genau im Übergang von Schenkel zu Gesäß – da gab es nichts, was abgebunden werden konnte. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Situation lebensbedrohlicher.
Das Erste, was er tat, war, um Hilfe zu schreien.
Doch wer sollte ihn hören: Weit und breit war niemand.
Es muss doch wer kommen, dachte er. Es müssen doch noch andere Leute unterwegs sein. Jogger vielleicht. Jogger sind immer und überall. Oder Hundebesitzer. Hunde müssen dauernd raus zum Scheißen. Es muss doch wer …
Er drückte mit drei Fingern der rechten Hand auf die Wunde, so fest es nur ging. Das bremste den Austritt des Blutes, wirklich stoppen aber konnte es ihn nicht.
Gensner war in Panik. Und ihm war übel. Er schrie nicht mehr um Hilfe. Er nestelte sein Handy aus der Jackentasche und versuchte verzweifelt, es in Gang zu setzen: Mit zittrigen Fingern die Tastensperre aufheben – es ging nicht. Das Handy fiel ihm aus der Hand, er holte es wieder zu sich heran, versuchte es erneut. Die Blutlache neben seinem Bein wurde größer und größer. Er zitterte am ganzen Körper. Und er fror fürchterlich.
Warum kommt denn niemand?, dachte er. Warum kommt denn niemand?
Er spürte nicht mehr, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er spürte nur noch eine unsägliche Erschöpfung. Er konnte die Augen kaum mehr offen halten. Auch sein Oberkörper sank nun zurück. Dann lag Gensner flach auf dem Boden, seine Finger rutschten von der Wunde, und der letzte Rest Leben floss ungehindert aus ihm heraus.
* * *
Noch war Superintendent Oltmann mit sich im Reinen. Er hatte Zweifel gehabt, das ja. Aber nachdem er bei der Polizei seine Aussage gemacht hatte, waren die Zweifel zunehmend einer besonderen Zufriedenheit gewichen: Er hatte dem Recht zu seinem Recht verholfen – und sich selbst von einer schier unerträglichen Last befreit.
Alles, was ihm Klar gebeichtet und was er sich dann nachträglich notiert hatte, war jetzt von seiner Seele gewichen. Er hatte auf dem Kommissariat von Klar berichtet, von den eingestandenen Morden, die Jahre zurücklagen und die in weiter Ferne, irgendwo in den Bergen, begangen worden waren. Er hatte berichtet von den Mittätern, wie Klar sie geschildert hatte, und dass einer davon schon gestorben war.
Er hatte sein Gewissen erleichtert. Und wenn auch noch immer Restzweifel in ihm keimten, ob dieses Vorgehen vereinbar war mit seiner Schweigeverpflichtung, so wartete er doch jetzt eigentlich nur noch darauf, dass die Polizei die Sache zu einem Ende brächte, hier im Norden diesen Olaf Klar festnähme und im Süden, in München, den anderen jungen Mann.
»Sie geben mir doch Bescheid, sobald sich das aufgeklärt hat«, hatte er noch zu dem Beamten im Kommissariat gesagt.
Als er dann aber erfuhr, was geschehen war, brach er fast zusammen. Er gab sich die Schuld am Tod des Mannes auf dem Deich. Und selbst noch, als bekannt wurde, dass es sich dabei um den mutmaßlichen Komplizen bei den Morden im Gebirge handelte, fand er nicht mehr zurück zu innerem Gleichgewicht. Tagelang lag er mit beharrlicher Migräne, so quälend, wie er sie seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr zu erleiden gehabt hatte. Er lag im verdunkelten Zimmer, geschützt vor Lärm und Aufregung, und hätte nichts dagegen gehabt, aus seinen oft nur halbe Stunden dauernden Schlafphasen nicht mehr, gar nicht mehr aufzuwachen. Dass Olaf Klar verhaftet wurde, das bekam er gar nicht mit. Dass die lokalen Zeitungen ihn, den Superintendenten, als Helden feierten – irgendwie war durchgesickert, dass von ihm der Hinweis auf Klar gekommen war –, drang nicht durch in seine Welt aus Schmerz und Übelkeit.
Als ein Beamter der Kripo anrief, nahm Oltmanns Frau entgegen, und sie enthielt ihrem Mann die Information noch lange vor, dass Klar bei den Vernehmungen all das gestanden hatte, was er
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