Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
Vom Netzwerk:
war froh, dass so wenigstens ein bisschen gegen das enervierende Warten getan werden konnte: ein Ausflug in den Rofan, ein Ausflug ins Kaisergebirge. Wenn sie daran dachte, was ihr im Kaisergebirge kürzlich passiert war, tat ihr immer noch der Arm weh. Und doch fühlte sie sich stärker jetzt. Und sie hatte die Überzeugung, dass sie jetzt nicht mehr stürzen würde in dieser Kletterstelle, ja, nicht einmal in den schwierigeren Passagen der Tour.
    Sie verspürte eine ungeheure Unruhe in sich.
    Wenn ich da schon mitmache, dachte sie, dann auch richtig. Ich will nicht nur dabeisitzen und zuhören, wie Reuss und Schwarzenbacher und dieser Hosp kriminalistisch fachsimpeln.
    Und dann dachte sie noch, dass man eigentlich ins Karwendelgebirge aufbrechen sollte, um zu sehen, ob nicht doch eine Spur von Senkhofer zu finden wäre.
    Stecknadel im Heuhaufen, dachte sie. Aber auch da kann man sich mitten reinsetzen.
    * * *
     
    Gensner und Klar trafen sich nicht in Wilhelmshaven. Klar wollte sich eigentlich gar nicht mit seinem früheren Gefährten treffen. Schon gar nicht in seiner eigenen Wohnung. Und nicht in dem Viertel, wo er wohnte, wo man ihn kannte. Sosehr er dazu neigte, sich der Polizei zu stellen und seinem Herzen Luft zu machen, so sehr ließ er doch auch noch immer seine Instinkte walten: Instinkte eines Menschen, der sich verfolgt, in die Enge getrieben wähnt.
    Sie trafen sich an der ostfriesischen Nordsee unweit von Minsen. Der Tag war trüb und kühl, und das Wattenmeer lag trostlos vor dem Deich.
    Draußen, über dem bleifarbenen Horizont, bauten sich dunkle Wolkenbänke auf. Über dem düsteren, schlickig stinkenden Watt kreisten schreiend riesige Möwen.
    »Die Sache ist ernst«, sagte Gensner. »Ich war mir sicher, dass es keine Zweifel gibt. Unglücksfälle und fertig. Liegt ja alles Jahre zurück. Und in all der Zeit hat sich niemand gemeldet, der etwas anderes zu berichten gehabt hätte. Und plötzlich fangen die verdammten Bullen damit an, die Geschichten aufzuwärmen. Ich versteh das nicht. Verstehst du das?«
    Olaf Klar schwieg. Er sah auf das Meer hinaus, das wie eine Spiegelung, wie eine Imagination in der Ferne lag – wer nicht von hier war, wer die Launen des Ozeans nicht kannte, der hätte nicht sagen können, ob es wirklich das Wasser war oder nur eine Einbildung.
    »Ob du das verstehst?«, hakte Gensner lauter und fordernder nach. »In der Alpenvereinszeitung steht was, im DAV-Newsletter ebenfalls und auf der Homepage sowieso. Das heißt, dass wir verdammt aufpassen müssen, wirklich verdammt aufpassen müssen. Irgendwer hegt einen Verdacht. Und bestimmt legt dieser Irgendwer seine Schlingen aus. Wir müssen uns hüten, da reinzusteigen.«
    Immer noch schwieg Klar. Dann aber sagte er etwas, allerdings mitten hinein in eine Windbö, sodass Gensner nichts verstand.
    »Was?«, schrie er. »Red, dass ich was höre!«
    Klar blieb stehen, sah Gensner kurz in die Augen und sagte dann: »Ich weiß nicht, ob ich das noch länger aushalte.«
    Diesmal sprach er laut genug. Und Gensner spürte, wie ihm die Knie weich wurden.
    »Ich überlege schon lange, ob ich mich nicht stellen soll und dann meine Strafe verbüße.«
    Gensners Rechte schnellte nach vorn. Er packte Klar am Hals und drückte zu. Klar wehrte sich nicht. Er sah Gensner nur an. Sah ihm in die Augen. Und sah dann an Gensners Gesicht vorbei, den Deich entlang, wo zahllose Schafe grasten und weit hinten Leute schlenderten, die wahrscheinlich gar nicht mitbekamen, was vor sich ging.
    »Du blödes Arschloch!«, schrie Gensner. »Du verdammtes, blödes Arschloch wirst nicht zur Polizei gehen, wirst dich nicht stellen, alles gestehen und mich verpfeifen. Dazu kommst du nicht! Glaub mir, zuvor bring ich dich um!«
    Dann ließ er ihn los. Eine Möwe mit enormer Spannweite flog knapp an ihnen vorüber.
    Klar fiel der Kopf auf die Brust. Hustend und prustend versuchte er, wieder Luft zu bekommen. Er beugte den Oberkörper vor, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln auf und spuckte Speichel und Schleim auf den asphaltierten Deichweg. Er fühlte sich elend. Doch er hatte keine Angst. Jetzt hatte er keine Angst mehr. Lange Zeit hatte er in ständiger Angst gelebt: Angst, erwischt zu werden, und Angst vor den Gespenstern, die ihn nicht nur in nächtlichen Träumen heimsuchten. Doch seit er bei dem Pfarrer gewesen war, seitdem er diesem Oltmanns als erstem Menschen überhaupt erzählt hatte, was damals geschehen war, seitdem war die Angst

Weitere Kostenlose Bücher