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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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wusste, wo das Haus war, in dem Marianne Grasberger gelebt hatte und in dem sie ermordet worden war. Sie wusste, aus welchem Haus Hedwig und Ferdinand Senkhofer stammten. Dort ging sie hin.
    Als sie davorstand, kam ihr das Haus nicht nur verlassen, sondern irgendwie tot vor. Um das zu spüren, wären die offensichtlichen Hinweise darauf gar nicht mehr nötig gewesen: Der Briefkasten quoll über, lauter Werbesendungen. Die Fenster waren alle geschlossen; nicht eines war zum Lüften gekippt. Die Erde im Garten war trocken, die Pflanzen erschienen durstig und krank.
    Sie widerstand dem Impuls, zu klingeln. Was soll ich sagen, wenn doch jemand aufmacht?, dachte sie.
    Marielle ging weiter. Der Sportplatz war verwaist.
    Nicht einmal Kinder sind da, dachte sie. Aber dann fiel ihr ein, dass es erst später Vormittag war und dass Kinder, die vielleicht gern mit dem Fußball herumbolzten, jetzt noch in der Schule waren.
    Gleich hinter dem Fußballplatz begann sich das Gelände aufzusteilen, gebirgig zu werden. Hinter lichtem Bergwald stellten sich senkrechte Felsplatten auf. Die sogenannten Sonnenplatten. Hier war sie schon gewesen. Ein beliebter Klettergarten. Doch sogar hier war jetzt nichts los. Sie beschloss, bis zu den Felsen hinaufzugehen.
    Marielle ging schnell. Es war nicht weit. Doch es war nicht ungefährlich. In diesem Klettergarten empfahl es sich, mit Helm zu klettern. Oft kamen Steine von oben. Über den Kletterplatten war das Gelände schrofig und das Gestein brüchig. Da brauchte nur eine Gämse zu queren, und schon kamen kinderfaustgroße Brocken nach unten geschossen. Und da musste man schon beim Zustieg zu den Kletterfelsen aufpassen, dass man sich kein Loch im Schädel holte. Marielle hastete zu einer senkrechten Wandstelle im äußersten rechten Teil des Klettergartens. Sie nahm den Rucksack ab und setzte sich auf den Boden. Ein wunderbarer Platz: Hoch über ihrem Kopf war ein kleiner Überhang im Fels, der schützte sie vor Steinschlag. Und der Fels, gegen den sie sich lehnte, war warm, obwohl die Sonne nicht schien.
    Sie fühlte sich fast ein wenig an die Calanques erinnert: heller, griffiger Fels, licht stehende Kiefern, der Duft von Kräutern. Nur dass dort der Himmel blau gewesen war. Und natürlich: Hier fehlte das Meer. Und noch etwas fehlte …
    Sie trank einen Schluck vom Orangensaft. Aß die Hälfte ihrer dünn mit Fleischkäse belegten Semmel. Sie genoss es, allein zu sein. Sie genoss es, ohne Pablo sein zu können. In letzter Zeit ging er ihr oft auf die Nerven. Sie wusste, dass sie dann ungerecht war. Er war wirklich in Ordnung. Aber es gab dieses und jenes, was sie immer öfter störte. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ihm oft regelrecht aus dem Weg ging.
    War’s das schon?, dachte sie.
    Nein. Ich will nicht, dass es vorbeigeht.
    Aber ich bin auch nicht hierhergekommen, um über meine Beziehung nachzudenken.
    Sie saß ein Stück oberhalb des Ortes, der sich nach Norden hin erstreckte. Gegenüber erhoben sich die westlichsten Karwendelberge. Sie sah die mächtige Pleisenspitze, links davon die dicht waldigen Flanken der Brunnsteinspitze, und sie überlegte, wohin sie geflohen wäre, wenn sie an Ferdinand Senkhofers Stelle hätte verschwinden müssen.
    Ich weiß nicht, wie er aussieht, dachte sie. Schon sonderbar, dass es Menschen gibt, von denen kein einziges Foto existiert. Zumindest soll das seine Schwester gesagt haben. Es gibt nichts als eine vage Beschreibung. Sehr vage. Das Haar braun mit vielen grauen Strähnen. Bei seiner Flucht muss es lang gewesen sein, und er würde es nicht abschneiden, das hat seine Schwester gesagt.
    Daran müsste er doch eigentlich zu erkennen sein. Es gab ja gewiss nicht allzu viele Männer jenseits des fünfzigsten Lebensjahres, die mit schulterlangen Haaren durchs Karwendel zogen.
    Marielle betrachtete die Landschaft, die ihr eigentlich vertraut war, die sie jedoch noch nie so genau wahrgenommen hatte wie an diesem Tag. Wohin würde sie fliehen?
    Seit der Bluttat in Scharnitz waren Wochen vergangen. Damals war noch gefährlich viel Schnee im höheren Gebirge gelegen. Die Taleinschnitte im Karwendel waren bis spät in den Mai von gewaltigen Lawinen bedroht gewesen. Zwar war dieser Ferdinand wohlbehalten aus einem Talwinkel nach Scharnitz gekommen, aber es musste so ähnlich wie russisches Roulette gewesen sein. Es war entdeckt worden, dass er unterwegs eine Hütte aufgebrochen hatte. Nein, dachte sie, er ist nicht auf demselben Weg

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