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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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ruhig und gleichmäßig.
    »Schläfst du?«, fragte Marielle.
    »Mhmh«, verneinte Pablo. »Ich genieße nur … Und du? Bist du müde?«
    »Irgendwie ja und irgendwie nein«, sagte sie. »Ich würde diese Stunde gern festhalten. Die Zeit anhalten. Alles in mir abspeichern, unlöschbar, für immer … Den Duft der Landschaft, und wie das Meer rauscht. Deinen Körper, dich, die Nacht. Und den Sternenhimmel.«
    Sie löste sich ein klein wenig von ihm.
    »Weißt du«, fuhr sie fort, »es ist heute das erste Mal seit Langem, dass ich die Sterne ertrage. Und ich ertrage sie nicht nur, ich hab heute wirklich Freude daran.«
    »Das ist schön«, sagte Pablo. »Das ist wunderbar. Ich freu mich für dich. Ich freu mich sooo für dich.«
    Eine Zeit lang blieben sie stumm und schauten in den Himmel.
    »In gut zwei Stunden ist das Jahr vorüber«, sagte Marielle in die Stille hinein. »Ich bin gespannt, was es uns bringt. Wirklich gespannt.«
    »Viel Gutes«, sagte Pablo. »Da bin ich mir ganz sicher, dass es uns viel Gutes bringt. Geht doch gar nicht anders. Wo es doch hier schon so gut anfängt, oder? Und überhaupt: Seit dem Herbst studierst du wieder, du bist wieder ganz anders drauf, du kannst wieder in den Himmel schauen, und außerdem …«
    Er richtete sich ein wenig auf, stützte sich auf den Ellenbogen und küsste sie flüchtig auf den Hals.
    »Was, außerdem?«
    »Außerdem machst du einen ziemlich vitalen Eindruck, wenn du auf mir sitzt …«
    Sie gab ihm einen Rempler mit dem Ellenbogen, dass er aufstöhnte. Allerdings tat er das so übertrieben wie ein Fußballspieler, der sich im Strafraum fallen lässt und den bös Gefoulten mimt.
    »Miststück«, sagte er und kniff sie in die Hüften und die Schenkel, und sie balgten und kicherten wie Schulkinder.
    * * *
     
    Reuss stand mit seiner Frau und den beiden Kindern – Ralf war vierzehn, Sabine zwölf – um Mitternacht auf der Dachterrasse seiner Wohnung unweit des gläsernen Rathausturmes. Als um Punkt zwölf die Glocken in der ganzen Stadt zu schlagen begannen, stießen alle mit Champagner an. Reuss küsste seine Frau auf die Wangen, die sie ihm nacheinander kurz hinhielt. Er umarmte seine Kinder, und während alle miteinander in den funkensprühenden, bunten, qualmenden Nachthimmel schauten, fragte er sich mit gewisser Bangnis, was ihm das Jahr bringen würde.
    In der Stadt war die Silvesternacht kühl. Und diese Kühle kroch durch seine Kleidung und durch die Haut und bis in die Knochen.
    * * *
     
    Paul Schwarzenbach war allein an diesem Silvesterabend. Nach der Nachrichtensendung »Zeit im Bild« um acht hatte er sich eine Tiefkühlpizza zubereitet, eine Flasche Barbera d’Asti getrunken und in einer Stimmungslage zwischen Wut und Verzweiflung nebenbei Fernsehen geschaut.
    Um elf hatte er das Gerät ausgeschaltet, weil er den stupiden Frohsinn der Silvestersendungen nicht mehr ertragen konnte. Stattdessen hatte er sich »Yessongs« aus dem CD-Regal geholt – es bedurfte inmitten von sechshundert CDs keines Suchens; er wusste genau, wo jedes seiner Sammlerstücke zu finden war. Die meisten Details zu seinen CDs kannte er, ohne das Booklet lesen zu müssen – Yessongs, Live-Aufnahmen von 1972, als opulente 3er-LP herausgekommen 1973; an der Gitarre Steve Howe, am Bass Chris Squire, an den Keyboards Rick Wakeman. Schlagzeug: Alan White und Gesang: Jon Anderson. Nicht zu vergessen die der Musik gemäße, höchst kunstvolle Covergestaltung von Roger Dean. Schade nur, dass auch diese Kunstwerke fürs Cover und fürs Booklet der Doppel-CD eingedampft werden mussten aufs Miniaturformat.
    Gut, dass ich das alte Album aufgehoben habe, dachte Schwarzenbacher.
    Er drehte die Anlage auf, bis er die Nacht nicht mehr hörte – nicht das Glockenläuten, nicht die Kanonenschläge, nicht die Böllerschüsse, nicht das Feuerwerksgeheule. Stattdessen Bombast-Rock der Post-Hippie-Ära mit Anleihen bei Klassik und Jazz. Stattdessen diese zu Tränen rührend romantische und dabei so atemberaubend komplexe Musik der britischen Band.
    Mit Jon Andersons extrem hoher und reiner Stimme glitt Paul Schwarzenbacher vom einen Jahr ins nächste. »I’ve seen all good people«.
    Und er war froh, dass es überstanden war.
    * * *
     
    »Vorsätze?«, fragte Pablo. »Hast du welche?«
    »Klar«, sagte Marielle. Mehr nicht.
    »Sagst du mir sie?«, fragte Pablo nach einer kleinen Weile.
    »Warum nicht.«
    Sie nahm einen Schluck vom lauwarm und lack gewordenen Champagner aus der

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