Kalter Fels
Flasche, dann küsste sie Pablo auf den Mund.
»Mein erster guter Vorsatz ist«, sagte sie mit geschäftsmäßiger Stimme, »dich auch im nächsten Jahr für mich haben zu wollen. Wahrscheinlich will ich dich ja immer haben, aber da muss ich erst noch schauen, wie du dich so entwickelst – und natürlich was mir sonst noch so über den Weg läuft.«
Jetzt gab er ihr einen kleinen Stoß in die Rippen, aber nur ganz, ganz leicht.
»Mein zweiter guter Vorsatz ist, wieder in die Berge zu gehen. Mein dritter guter Vorsatz ist, mit meiner Bergführerausbildung weiterzumachen. Mein vierter guter Vorsatz ist, nächstes Jahr um die gleiche Zeit an selber Stelle wieder mit dir von einem Jahr ins nächste hinüberzu schlafen . Und mein fünfter guter Vorsatz …«
»So viele?«, fragte Pablo.
»Unterbrich mich nicht«, maulte sie. »Also: Mein fünfter guter Vorsatz ist, heuer auch mal einen Job zu übernehmen, wenn Reuss es anbietet. Ich habe meine Angst überwunden. Wirklich: Ich habe keine Angst mehr … zumindest nicht mehr viel.«
2
März in Tirol – das konnte vieles bedeuten: Hochwinter mit viel Schnee bis in die Täler war die Regel. Bisweilen gab es aber auch einen ganz frühen Frühling; gleichsam vom Föhn gedüngt sprossen Krokusse selbst auf den Wiesen der hoch gelegenen Bergbauernhöfe aus dem Boden, und drunten, nahe dem Innufer, gaukelten die Kiefern und die Trockenwiesen im Licht der tief stehenden Sonne eine geradezu mediterrane Atmosphäre vor. Und beides, der weiße Winter wie der provencefarbene Frühling, war von besonderem Reiz.
»Scheißwetter«, fluchte Marielle leise vor sich hin. Sie hatte den Astra unerlaubterweise auf dem Parkplatz des Restaurants »Löwenhaus« gegenüber vom Landesstudio des ORF abgestellt und war bei recht milden Temperaturen losgejoggt: über die Innbrücke und dann auf den steilen Serpentinen hinauf Richtung Hungerburg. Nach wenigen Minuten aber war die Sonne verschwunden, der Himmel über dem Inntal hatte sich grau verfärbt, und binnen kürzester Zeit hatte Nieselregen eingesetzt. Das wäre ja erträglich gewesen, doch dann kam auch noch Wind dazu. Ein Wind, der ihr den Regen waagrecht ins Gesicht peitschte.
Dieser März war keiner von den reizvollen. Er war sozusagen die dritte Variante, die Tirol zu bieten hatte: wenig Schnee im Hochwinter, ständig Föhn, häufig Niederschläge in Form von leichtem Regen. Die Bergflanken sahen dann aus wie das Fell einer scheckigen Kuh oder eines Zebras – zwischen weißen Flecken und Streifen schaute dunkelbraun die Erde heraus. Das Weiß wirkte fahl, das Dunkle deprimierend, und wenn sich dazu noch der Himmel einen grauen Schleier überzog, war die Tristesse perfekt.
»Scheißwetter«, maulte Marielle noch einmal. Sie tat es lautlos, denn reden wäre ihr bei diesem steilen Berglauf zu anstrengend gewesen. Sie rannte hinauf bis zur Station Hungerburg, da lag ein bisschen Schneematsch, in dem Skifahrer und Snowboarder herumtapsten, schön war es heute auch hier nicht. An der Brüstung bei der Bahnstation blieb sie einen Moment stehen, dehnte die Beinmuskulatur und schaute hinunter zur Stadt, die in dreckigen Braun- und Grautönen dalag.
Öde, dachte sie. Wie öde heute wieder mal alles ist.
Dabei war sie doch froh, sich aufgerafft zu haben. Es war ja eigentlich so ein Tag, an dem sie zu nichts, zu rein gar nichts Lust hatte. Wo sie am Morgen, nach dem Aufwachen und ersten Pinkeln, nur einen Wunsch verspürt hatte: sich im Bett verkriechen zu können, ganz allein, nur mit sich, ohne Pablos steife Gier, ohne den Wecker, ohne Verpflichtungen, nur mit dem Schlaf und dem Halbschlaf, nur mit ihren Träumen und ihren Tagträumen. Doch sie hatte es geschafft, wie meist, ihren inneren Schweinehund zu überwinden. Und wenn sie dann erst einmal draußen war, draußen in der Natur, an der frischen Luft, dann gelang es ihr auch, ihre Deprimiertheit zu verdrängen.
Als sie wieder bergab lief – dieselbe Strecke, die sie gekommen war –, nahm sie den Geruch des Zoos stärker wahr als zuvor. Der Weg führte direkt am Innsbrucker Alpenzoo vorbei, und als wäre ihre Nase im Laufen ganz frei geworden, roch sie jetzt den scharfen Urin der Tiere, sie roch den Mist, und alles erinnerte sie an Zirkusbesuche in ihrer Kindheit. Da hatte ihre Mutter noch gelebt. Marielle hatte sich, ganz klein noch, ein wenig gefürchtet in der fremden Welt der Akrobaten, der Zauberer, der Messerwerfer und, davor am meisten, der Raubtierdompteure.
Über die
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