Kalter Fels
Clowns musste sie lachen, wie jedes Kind. Die Jongleure fand sie langweilig. Auch die Pferdenummern. Sie fand überhaupt keinen Gefallen daran, wenn weiße Hengste in Formation durch die Manege trabten. Aber wenn dann der große runde Käfig aufgestellt wurde, von lauter feschen Männern in weinroten Livreen mit goldenen Knöpfen und goldenen Litzen, dann begann ihr Herz schneller zu schlagen: Sie meinte, das Fauchen der riesigen Raubkatzen durch die schwungvolle Zirkusmusik hindurch hören zu können – und sie roch die Tiere, noch ehe sie durch den vergitterten Laufgang in die Manege hineinschlichen. Da mischten sich dann bei ihr Angst und Faszination. Und während der Dompteur die gefährlichen Tiere durch Reifen springen ließ, versteckte sie sich in der Achselhöhle ihrer Mutter und lurte nur mit einem Auge aus ihrem Versteck.
Der Geruch des Zoos ließ sie lächeln. Zugleich war die Erinnerung schmerzlich. Marielle blieb stehen, stützte sich auf die Knie, atmete weiße Wölkchen in den kalten Nachmittag und spürte, dass ihr die Tränen kamen.
Wenn ich mal Kinder habe, dachte sie, dann gehe ich nicht mit ihnen in den Zirkus. Das muss Pablo machen. Und dann dachte sie, dass es ja alles andere als sicher war, dass er zum Vater ihrer Kinder werden würde. Sie waren beide noch so jung. Und der Gedanke an Pablo ließ sie wieder ein wenig lächeln.
Sonderbar gestimmt trabte sie den Serpentinenweg hinunter. Ihre Oberschenkel schmerzten vom ständigen Abbremsen. Sie wusste, dass es nicht besonders gut war, bergab zu laufen: Die Gelenke und die Bänder wurden dabei arg strapaziert. Aber sie vertraute auf ihre gute Konstitution und tat es, um noch stärker und noch ausdauernder zu werden.
Als sie den Inn wieder überquert hatte und bei ihrem Auto ankam, steckte ein Zettel hinter dem Scheibenwischer am Heck: »Falls Ihnen entgangen sein sollte, dass dies hier kein öffentlicher Parkplatz ist: Im Wiederholungsfall sehen wir uns gezwungen, das Fahrzeug kostenpflichtig abschleppen zu lassen.«
»Arschlöcher«, schimpfte Marielle, knüllte den Wisch zusammen und schmiss ihn weg. Dann aber überlegte sie es sich anders, klaubte das Papierknäuel wieder auf und warf es im Auto auf den Boden der Beifahrerseite.
Zähneklappernd fuhr sie durch die Stadt. Die Heizung der alten Karre taugte nicht mehr viel. Dass zudem so ziemlich jede Ampel genau in dem Moment gelb zu blinken begann, als sie in die Nähe kam, sie also überall zwei, drei Minuten im feuchtkalten Wagen ausharren musste, machte sie zusätzlich frösteln.
Als sie bei Pablo in der Pacherstraße ankam, zitterte sie am ganzen Körper.
»Verrücktes Huhn«, sagte er. »Bei dem Wetter hättest du dir dein Konditionsprogramm wirklich sparen können. Noch dazu, wo du weißt, dass wir heute noch etwas vorhaben.«
Er ließ ihr die Badewanne volllaufen und gab vorsichtshalber einen Schuss Erkältungsbad dazu. Und während sie dann in der Wanne saß, holte er ihre Reisetasche mit den guten Sachen aus dem Auto. »Hab ich total vergessen …«, sagte sie.
Sie hatte immer noch ihre kleine Wohnung im Stadtteil Lohbach im Westen von Innsbruck, auch wenn sie die meiste gemeinsame Zeit bei Pablo in der Pacherstraße verbrachten. Da ließ es sich dann nicht ganz vermeiden, ab und an wie eine Besucherin mit der Reisetasche von hier nach da unterwegs zu sein.
Während sie sich im nach Eukalyptus duftenden Bad aufwärmte und streckte, erzählte ihr Pablo, was er zu dem bevorstehenden Treffen in Erfahrung gebracht hatte.
»Ich habe vorhin noch mal mit Schwarzenbacher telefoniert.«
Marielle schaute ihn fragend an.
»Also: Es geht um einen Mord, der sich vor fast vierzig Jahren ereignet haben soll. Irgendwo im Wetterstein. Die Polizei ging damals davon aus, dass es ein Unfall war. Schwarzenbacher aber sagt, dass es um einen Mord geht. Heute Abend treffen sich er und Reuss mit der Schwester des Opfers. Und da sollen wir dazukommen.«
»Stellt sich die Frage«, sagte Marielle, während sie ihr Becken ein wenig in die Höhe drückte und sich mit der Seife im Schritt schrubbte, »wie diese Frau auf Reuss gekommen ist. Woher weiß sie, dass er sich mit so alten Fällen befasst? Und dass er Schwarzenbacher als Kompagnon hat?«
Sie bemerkte, dass Pablo gar nicht richtig zuhörte.
Er schien sich geradezu zu wünschen, das Stück Seife zu sein.
Marielle musste lächeln. Und in diesem Moment dachte sie, dass eine große Liebe dort beginnt, wo man keine Geheimnisse mehr haben muss
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