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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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einen Bergsteiger erschlagen, mitten in der Natur? Ich hab nachgedacht, bis der Kopf mir wehgetan hat davon. Aber ich bin nie auf etwas gestoßen, das irgendwie Sinn gemacht hätte. Kein Resultat … Verstehen Sie?«
    Sie schaute von Schwarzenbacher zu Reuss und wieder zu Schwarzenbacher.
    »Kein Resultat.«
    Sie lehnte sich ein wenig im Stuhl zurück, richtete den Kopf etwas mehr auf, legte die Hände in den Schoß und spielte nervös mit den Fingern.
    »Aber das ändert nichts. Auch wenn ich mir keinen Reim auf all das machen kann, bin ich überzeugt, dass Karl erschlagen worden ist. Dass es nicht ein Stein war, der sich hoch über ihm aus der Wand gelöst hat. Sondern dass jemand ihm einen Stein auf den Kopf geschlagen hat. Und dann muss der Karl abgestürzt sein …«
    »Waren Sie jemals an der Unglücksstelle?«, fragte Schwarzenbacher.
    Sie sah ihn an, als würde sie nicht verstehen, was seine Frage zu bedeuten hatte.
    »Ich meine, haben Sie sich die Unglücksstelle jemals selbst angesehen?«, sagte Schwarzenbacher. »Damals, als man Ihren Herrn Bruder gefunden hat, oder irgendwann später.«
    Sie verengte die Augen, wie man es tut, wenn man besonders wachsam ist, wenn man nicht will, dass einem irgendetwas entgeht. Sie schaute Schwarzenbacher an, schien ihn zu prüfen, schien sich zu fragen, wie viel dieser Mann im Rollstuhl noch wert war, was sie von ihm erwarten konnte oder auch, was sie von ihm befürchten musste.
    Dann entspannte sich ihr Gesicht wieder, ihre Augen wurden offener.
    »Das Gebirge war mir schon fremd, bevor das mit Karl passiert ist. Wir waren uns ja in vielem sehr ähnlich. Ich bin drei Jahre älter als er. Aber das mit den Bergen … da habe ich ihn nie verstehen können. Habe nicht verstanden, was er daran findet, sich die Berge hinaufzuschinden, sich Gefahren auszusetzen, immer unterwegs zu sein, anstatt es sich daheim gut gehen zu lassen. Nein«, sagte sie, »ich habe ihn nie verstanden. Als es dann geschah, war ich zuerst der Meinung, dass es ja eines Tages so hatte kommen müssen. Wer sich immer in Gefahr begibt, kommt schließlich darin um. Ich glaube, die Berge sind grausam. Sie haben bestimmt auch Schönes, aber vor allem, glaube ich, sind sie gefährlich und grausam. Der Tod meines Bruders hat mich schwer getroffen.«
    Sie machte eine kurze Pause, in der niemand etwas zu sagen wagte.
    Der Ober sah, dass alle die Speisekarten geschlossen hatten. Er war aber wohl feinfühlig genug, nicht in diesen Augenblick hineinzuplatzen. Den Tisch, an dem sie saßen, umgab Stille, Angespanntheit, die Aura eines ganz und gar bedeutsamen Moments.
    »Auch wenn man immer in Angst um ihn gelebt hat«, sagte Frau Gehrig-Mannhardt, »so kam sein Tod doch völlig überraschend. Als ich davon erfuhr, war es so, als hätte ich mich nie gesorgt um ihn, als hätte es nie Grund für meine Angst gegeben, als wäre er noch nie in die Berge gegangen. Es war völlig überraschend. Und ich konnte es nicht fassen: Karl tot. In den Bergen verunglückt. Unwiderruflich tot, fort, weg aus meinem Leben. Spätestens da habe ich die Berge gehasst. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich seither die Berge hasse.«
    Marielle erschauderte innerlich. Auch sie hatte Schlimmes im Gebirge erlebt und durchlitten, auch sie hatte monatelang keinen Fuß mehr in die Berge gesetzt, nicht einmal hochschauen zu den Bergen hatte sie wollen, wenn sie durch die Stadt gegangen war. Aber gehasst? Gehasst hatte sie die Berge nie. Im Gegenteil. Ihr erschienen sie auch nicht als übermäßig gefährlich und schon gar nicht als grausam. Die Berge waren einfach da, und sie waren schön, und sie boten so viele Möglichkeiten, etwas Besonderes zu erleben und dabei sich selbst ganz intensiv zu spüren.
    Marielle konnte die Frau verstehen, konnte verstehen, dass sie solche Gefühle hatte. Aber teilen konnte sie diese Gefühle nicht. Sie erschrak nur über so viel Hass.
    »Sie werden verstehen, dass ich nicht dorthin gegangen bin, wo mein Bruder gestorben ist. Für nichts auf der Welt wäre ich dorthin gegangen. Nicht etwa, weil ich Angst gehabt hätte, dass mir dort auch etwas passieren könnte. Sondern weil ich keinen Berg und keinen Felsen sehen wollte und konnte.«
    Damit war zumindest eine von Schwarzenbachers Fragen beantwortet, und Frau Gehrig-Mannhardt schien jetzt fast ein bisschen in sich zusammenzusinken.
    »Danke«, sagte Schwarzenbacher. »Wenn Sie mir jetzt noch erzählen könnten, wodurch Ihre Zweifel geweckt worden sind. Es

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