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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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wäre wirklich wichtig.«
    Die Stimme von Frau Gehrig-Mannhardt klang müde. »Aber das habe ich doch Herrn Dr. Reuss alles schon gesagt …«
    Reuss nickte. »Gewiss. Aber mein geschätzter Kollege Schwarzenbacher hat sicherlich seine Gründe, alles noch einmal aus Ihrem Mund, Frau Gehrig-Mannhardt, hören zu wollen. Polizisten sind so«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Daran sollten Sie sich nicht stoßen.«
    Sie schien zu überlegen. Schaute nachdenklich von einem zum anderen.
    »Haben Sie Geschwister?«, fragte sie dann ganz unvermittelt und sah Schwarzenbacher dabei an. »Ich nehme an, Sie haben keine. Sonst könnten Sie vielleicht verstehen.«
    Schwarzenbacher verstand offenbar nicht, worauf sie hinauswollte. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter:
    »Mein Bruder und ich, wir waren sehr vertraut. Wir haben uns immer gemocht. Wir haben miteinander gespielt, haben lange dasselbe Zimmer gehabt, und abends, wenn wir in den Betten lagen, haben wir uns erzählt, was wir erlebt haben, was uns bewegt hat. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander …«
    Sie spielte nervös mit ihren Fingern.
    »Es gab bei uns etwas«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … Es war so eine Art innerer Verbindung, ein Verstehen ohne Worte. Ich erinnere mich an eine Geschichte …«
    Marielle versuchte, an den Gesichtern von Reuss und Schwarzenbacher abzulesen, was sie von diesen Ausführungen hielten. Doch Reuss verzog keine Miene. Und Schwarzenbacher? Er kniff die Augen ein wenig zusammen, so als könnte er sich damit besser konzentrieren oder geradewegs durch die Dinge hindurchsehen.
    »Karl war noch klein. Zehn Jahre vielleicht. Er hätte um halb fünf zu Hause sein sollen. Aber er kam nicht. Er war sonst immer zuverlässig. Es wurde fünf, und meine Mutter machte sich Sorgen. Sie telefonierte andere Mütter an, die Mütter von Spielkameraden Karls. Aber niemand wusste etwas. Meine Mutter war den Tränen nahe. Ich versuchte sie zu beruhigen. Dann ging ich in unser Zimmer.«
    Sie schaute etwas irritiert, schien die Erinnerungen bündeln zu wollen, fasste sich aber gleich wieder.
    »Sie werden gewiss lachen. Sie werden mich nicht verstehen können. Aber sei’s drum.«
    Marielle wusste nicht, was sie von der Frau halten sollte. Sie war gleichermaßen beeindruckt wie irritiert.
    »Ich hab mich auf sein Bett gelegt. Um ihm in diesem Augenblick so nahe zu sein wie nur irgendwie möglich. Ich hab die Augen geschlossen. Eine Minute lang vielleicht, vielleicht auch weniger. Und dann hab ich mit den Handballen auf die Augäpfel gedrückt, bis sie zu schmerzen begannen. Dann sah ich ihn.«
    Marielle biss sich auf die Unterlippe. So ein Scheiß, dachte sie. Reuss’ Gesicht blieb unbewegt. Aber bei Schwarzenbacher bemerkte Marielle den Hauch eines Lächelns. Wie der Schatten einer kleinen Wolke: plötzlich da und gleich wieder weg.
    »Ich sah ihn«, sagte Frau Gehrig-Mannhardt. »Ich sah ihn natürlich nicht wirklich. Es war mehr eine Ahnung, wo er sein konnte. Und doch scheint es mir bis heute so, als wäre es mehr gewesen als eine Ahnung: so eine Art siebter Sinn.«
    Sie brach abrupt ab, wirkte einige Augenblicke lang verwirrt. Sagte dann, dass es so ausführlich ja wohl doch nicht sein müsse und dass sie die Herren ja nicht langweilen wolle. Sie hatte nur Reuss und Schwarzenbacher im Blick. Marielle und Pablo nahm sie überhaupt nicht wahr.
    »Was war mit Ihrem Bruder?«, fragte Reuss ganz ruhig, sachlich.
    »Ich holte meine Mutter«, sagte Frau Gehrig-Mannhardt. »Ich sagte ihr, wo wir meinem Gefühl nach suchen mussten. Raus aus der Wohnung, über die Straße hinüber, den Ariboweg entlang, rechts dann den Pfad durch ein brachliegendes Wiesenstück … In der Sackgasse hinter der Wiese fanden wir ihn. Er kauerte in einer großen Holzkiste, in der noch ein wenig Streusand vom letzten Winter war. Da hatten ihn andere Kinder eingesperrt, hatten ein Stöckchen durch den Sperrriegel geschoben, sodass er nicht mehr herauskonnte, und waren dann nach Hause gegangen. Stellen Sie sich das mal vor. Karl zitterte vor Angst. Vielleicht hätte er ersticken können in diesem Verschlag. Jedenfalls …«
    Sie nahm einen Schluck vom Mineralwasser, das schon fast alle Kohlensäure verloren hatte, schal geworden war im Glas.
    »Jedenfalls zeigt das doch, dass ich eine besondere innere Verbundenheit zu meinem Bruder hatte. Wir waren uns immer sehr nah. Bis auf seine Bergsteigerei, die ich nicht nachvollziehen konnte. Aber

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